Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
sich schon eine lustige Vorstellung ist), und als ich irgendwann zu den Tribünen hochschaue, sind die Zuschauer alle tot. Zum Glück niemand, den ich kenne. Sie sehen alle aus wie Zombies.
Ich weiß nicht, ob meine schlechte Laune von diesen Albträumen kommt oder umgekehrt die Albträume von meiner schlechten Laune. Wahrscheinlich beides. Jedenfalls schlafe ich nicht mehr gut, und das macht die Situation nicht besser.
Letzte Nacht hatte ich dann einen miesen Traum nach dem anderen. Ich weiß nicht, ob ich zwischendurch mal wach geworden bin. Mir kam es jedenfalls so vor, als ginge ein Traum direkt in den nächsten über. In einem davon durchsuche ich gerade ein Haus, und als ich eine Schranktür öffne, fällt mir ein Stapel Leichen entgegen. Dann bin ich wieder in dem gleichen Haus, öffne eine andere Tür, und die Toten sind lauter Menschen, die ich kenne. Ich sehe Mom in einem Schaukelstuhl sitzen und sie sagt: »Guck mich nicht so an, als wär ich tot.« Dabei ist sie tatsächlich tot.
Aber dann kam erst der schlimmste Traum – vielleicht der schlimmste meines Lebens. Ich bin auf dem Weg zur Schule und alles ist normal, wie früher. Die Sonne steht am Himmel, und ich weiß noch, dass ich mich im Traum darüber freue. Ich bin mir nicht sicher, ob sich alles schon wieder normalisiert hat oder ob die schlimmen Sachen überhaupt nie passiert sind. Ist ja auch egal. Jedenfalls scheint die Sonne und ich gehe zur Schule. Je näher ich der Stadt komme, desto mehr Leute begegnen mir. Alle sind glücklich, woraus ich schließe, dass die Sonne vielleicht doch gerade erst zurückgekommen ist. Alle sind einfach bester Dinge, weil die Sonne endlich wieder da ist.
Dann höre ich jemand schreien und sehe einen Mann mit einem schrecklich verdrehten Bein auf der Straße liegen. Mir ist sofort klar, dass das der Mann sein muss, von dem Syl erzählt hat. Es fühlt sich gar nicht mehr an, als würde ich schlafen, weil ich denke: Ach, das ist ja der Typ, von dem Syl gesprochen hat . Einen Moment lang halte ich den Mann für Dad und der Traum wird zum Albtraum. Aber dann sehe ich, dass ich ihn doch nicht kenne. Ich denke also: Okay, dann wird das wohl doch kein Albtraum.
Es fühlt sich an, als wäre ich wach und als würde das alles wirklich passieren.
Auch andere Passanten bleiben jetzt stehen, einige kehren sogar wieder um. Schließlich stehen wir mit zehn oder fünfzehn Leuten um den Mann herum, der immer noch schreit. Irgendwer sagt: »Halt die Klappe!«, und versetzt dem Mann einen Tritt gegen das Bein.
Daraufhin fangen auch andere an, ihn zu treten, und – was das Schlimmste ist – ich auch. Ich denke, wenn ich nicht mitmache, gehen sie stattdessen auf mich los. Aber ein bisschen macht es mir auch Spaß, weil ich mich stark fühle, während dieser Typ, der irgendwie alles verkörpert, was im letzten Jahr unerträglich war, hilflos am Boden liegt.
Je härter unsere Tritte werden, desto lauter schreit er. Das spornt mich nur noch mehr an.
Im Schlaf denke ich noch, gleich kippt dieser Traum und dann liege ich selbst da unten. Aber so weit kommt es nicht. Wahrscheinlich bin ich vorher aufgewacht. Beim Aufwachen habe ich jedenfalls gezittert. Durch meinen Sturz tut mir sowieso alles weh. Aber ich könnte schwören, dass das eine Bein nun noch viel mehr schmerzt. Als hätte mir jemand dagegen getreten.
Vor einem Monat noch habe ich oft von der kleinen Rachel geträumt. Träume, die ich beängstigend fand.
Aber jetzt hoffe ich zum ersten Mal, dass es die kleine Rachel gar nicht gibt. Ich weiß nicht, ob Dad und Lisa noch leben und ob das Baby überhaupt geboren worden ist. Es muss doch furchtbar schwer sein, in dieser Zeit ein Kind zu bekommen. Vielleicht hatte Lisa eine Fehlgeburt oder das Baby kam tot auf die Welt. So schrecklich dieser Gedanke auch ist, es wäre vielleicht doch das Beste.
Ich schlich mich aus dem Wintergarten und durch die Küche ins Bad. Dort riecht es nach Fisch, Nachttöpfen und ›Meeresbrise‹-Duftspender. Ich habe mich auf dem kalten Fliesenboden zusammengerollt und bin immer vor und zurück geschaukelt. Irgendwie war ich froh, dass mir dann alles noch mehr wehtat. Als müsste ich mich für meine Gedanken bestrafen.
Ich hasse meine Träume. Ich hasse Matt dafür, dass er Syl in unser Leben gebracht hat. Und ich hasse Syl dafür, dass sie mir ihre Albträume weitergegeben hat.
Ich hasse das Leben, das uns bleibt.
1. Juni
Es klingelte.
Mom und ich blieben wie erstarrt sitzen. Syl war oben
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