Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
schützen«, sagte er. »Ich kann überhaupt niemanden schützen. Ich kann nicht einmal tun, was Carlos mir aufgetragen hat. Der Regen hält mich davon ab. Du hältst mich davon ab.«
Ich küsste ihn und hoffte, dass meine Liebe seinen Schmerz lindern könnte.
Aber er löste sich von mir. »Ich werde nicht zulassen, dass Julie leidet. Mit Carlos konnte ich nicht darüber reden, dafür steht schon zu viel zwischen uns.«
»Julie muss nicht leiden. Nicht, wenn sie bei uns bleibt.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du doch gar nicht steuern. Keiner von uns kann das. Wer weiß, was noch alles passieren wird? Mir bleibt nur noch ein letztes Mittel, um Julie zu schützen. Alles andere, was ich versucht habe, ist fehlgeschlagen.«
»Was denn?«, fragte ich und erwartete, er würde so was wie ›mein Glauben‹ oder ›Beten‹ oder ›die Kirche‹ sagen.
Alex holte tief Luft. »Tabletten«, sagte er. »Schlaftabletten. Sechs Stück. Ich hab sie mir in New York besorgt und für sie aufbewahrt.«
»Damit sie schlafen kann?«, fragte ich.
»Damit sie nie wieder aufwacht«, sagte Alex.
»Dafür reichen sechs Tabletten aber nicht«, erklärte ich, als würde er, wenn ich ihm das sagte, über seine Dummheit lachen und damit wäre die Sache erledigt.
»Es reichen schon zwei«, sagte er stattdessen. »Dann schläft sie so fest, dass sie nicht mehr merkt, was ich tue.«
»Aber warum?«, fragte ich. »Warum solltest du so was tun?«
»Vielleicht kommt einmal der Tag, an dem das Leben für Julie schlimmer ist als der Tod«, sagte Alex. »Ich werde wissen, wenn es so weit ist. Ich bete darum, dass ich es weiß.«
»Aber jemanden zu töten, ist ein Verbrechen«, sagte ich.
»Nichts ist heute noch ein Verbrechen«, sagte er. »Es gibt keine Polizei, keine Gefängnisse mehr. Es ist eine Sünde, und Gott wird mich dafür strafen. Aber ich hab seine Strafe verdient, auch jetzt schon.«
»Hast du nicht«, sagte ich. »Du liebst Julie. Du liebst mich. Warum solltest du dafür bestraft werden, dass du jemand liebst?«
»Liebe reicht nicht«, sagte er.
»Sie muss reichen«, sagte ich und legte die Arme um seinen zitternden Körper. »Liebe ist das Einzige, woran ich glaube, Alex. Sie ist das Einzige, was uns schützt.«
25. Juni
Letzte Nacht habe ich geträumt, dass es klingelt. Als ich die Tür aufmache, steht Alex davor. Es ist Sommer und er hält einen Strauß Gänseblümchen in der Hand.
»Julie ist ins Kloster gegangen«, sagt er. »Carlos auch. Heirate mich, Miranda.«
Ich werde nicht aufschreiben, was als Nächstes passierte, falls das hier vielleicht doch mal irgendwer liest. Sagen wir einfach, es war der schönste Traum, den ich je hatte.
Beim Aufwachen dachte ich, vielleicht könnte es ja wirklich alles so werden. Julie und Carlos müssen ja nicht unbedingt ins Kloster gehen. Aber wenn Alex wüsste, dass Julie in Sicherheit ist, würde er vielleicht tatsächlich zu mir zurückkommen. Ich weiß, dass er mich liebt. Das muss doch irgendwie zählen.
Alex hat mir klargemacht, dass es für Julie tatsächlich besser wäre, ins Kloster zu gehen. Der Gedanke, dass ihr Leben in seinen Händen liegt, macht mir Angst. Nicht, dass er Julie jemals etwas antun würde. Aber die Sorge ist einfach zu viel für ihn. Seit einem Jahr trägt er jetzt schon die Verantwortung für sie. Und er würde es auch weiterhin tun, wenn Carlos sich nicht eingemischt hätte.
Vielleicht ist es falsch von mir, davon zu träumen, dass Alex und ich zusammenbleiben können, wenn Julie im Kloster ist. Vielleicht ist es falsch von mir, darauf zu hoffen, wo ich doch weiß, dass Julie gar nicht dorthin will.
Aber es war Carlos, der diese Entscheidung gefällt hat. Und er hatte Recht damit, dass Julie einen sicheren Ort braucht, wo er und Alex sie, wenn nötig, finden können. Julie kann schon allein auf sich aufpassen. Sie wird so lange im Kloster bleiben wie nötig. Danach kann sie tun und lassen, was sie will. Wenn sie das dann noch kann. Wenn das dann noch irgendeiner von uns kann.
Sobald er die Sorge um Julie los ist, wird Alex bei mir bleiben, das weiß ich. Solange sie hier ist, können wir nicht zusammen sein. Erst wenn sie im Kloster ist, hat Alex die Freiheit, sich für mich zu entscheiden.
Ich will Alex. Ich will Liebe. Und ich weiß, dass Alex das auch will.
26. Juni
Jon und Syl sind heute Morgen rüber zu Dad. Mom hat zu Jon gesagt, wenn Alex einverstanden sei, könnten er und Julie die Abholung der Lebensmittel übernehmen.
Seit
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