Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
meinem Streit mit Matt fühle ich mich in Syls Gegenwart irgendwie unwohl. Ich glaube nicht, dass er ihr erzählt hat, was ich über sie gesagt habe, aber ich weiß es halt nicht genau. Jedenfalls war ich froh, als sie verschwand, um mit Lisa in der Bibel zu lesen.
Ich hatte ebenfalls vor rüberzugehen, um Alex ein letztes Mal zu sehen. Aber bevor ich mir einen Vorwand überlegen konnte, tauchten Dad, Alex und Matt bei uns auf. Matt war beim Holzhacken gewesen, deshalb musste es etwas Wichtiges sein.
Einen Moment lang dachte ich schon, Dad würde uns mitteilen, er hätte Alex verboten wegzugehen und Alex wäre endlich zur Vernunft gekommen und hätte zugestimmt.
»Ich wollte mit euch sprechen«, sagte Dad, womit er wahrscheinlich Mom und Matt meinte. Doch da er mich nicht rausschickte, blieb ich einfach stehen. »Ohne die anderen.«
»Wir brechen morgen auf«, sagte Alex. »Julies Husten ist wieder weg. Vielen Dank für den Hustensaft, Mrs Evans. Der war uns eine große Hilfe.«
»Freut mich«, sagte Mom. »Freut mich, dass Julie wieder gesund ist.«
»Ihr wisst, was Alex vorhat«, sagte Dad. »Und ihr wisst, was ich davon halte. Lisa ist völlig verzweifelt, Jon geht es nicht viel besser.«
»Ich weiß, wie sehr Jon das alles mitnimmt«, sagte Mom, »aber er wird darüber hinwegkommen.«
»Er wird es müssen«, sagte Alex. »Wir haben auch so schon viel zu lange gewartet.«
»Bis zum Kloster sind es hundertdreißig Kilometer«, sagte Dad.
»Wir sind schon weitere Strecken gelaufen«, sagte Alex. »Bei schlechterem Wetter.«
»Mag sein«, sagte Dad. »Aber diesmal müsst ihr das doch gar nicht. In der Garage steht ein Transporter. Mit vierzig Litern Benzin.«
»Spinnst du?«, fragte Matt. »Wir sollen ihm den Transporter überlassen? Der ist unsere letzte Rettung, Dad. So was gibt man doch nicht an Fremde raus.«
»Alex hat den Transporter gefunden«, sagte ich. »Und das Benzin.«
»Aber du warst dabei«, sagte Matt. »Ohne dich hätte er ihn nie entdeckt. Also haben wir den gleichen Anspruch darauf. Und wir brauchen ihn noch dringender.«
»Du solltest dich schämen, Matt«, sagte Dad. »Julie ist doch noch ein Kind.«
»Jon auch«, sagte Matt. »Aber das hat dich nicht daran gehindert, uns zu verlassen.«
»Schluss damit«, sagte Mom. »Alle beide. Sofort.«
Diesen Ton hat Alex sicher noch nie von Mom gehört. Und es muss Jahre her sein, dass Dad ihn gehört hat.
»Alex, du bist ganz sicher, dass du morgen mit Julie aufbrechen willst?«, fragte Mom. »Du weißt, wie sehr wir euch ins Herz geschlossen haben. Du willst trotzdem gehen?«
»Ja, Mrs Evans«, sagte Alex. »Gleich morgen früh.«
»Und was hast du vor, wenn du Julie untergebracht hast?«, fragte Mom.
»In Ohio gibt es ein Franziskanerkloster«, sagte Alex, und Matt kicherte.
»Lass das, Matthew«, sagte Mom.
»Mom«, sagte Matt. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Dann benimm dich auch nicht so«, sagte Mom und wandte sich von ihm ab. »Du hast also vor, erst hundertdreißig Kilometer nach Nordosten zu laufen, um dann quer durch Pennsylvania nach Ohio zu gehen. Das sind Hunderte von Kilometern.«
»Wir haben es von Texas bis hierher geschafft«, erwiderte Alex. »Dann schaff ich es auch von hier bis Ohio.«
»Das kann man nicht vergleichen«, sagte Dad. »Je weiter nördlich, desto weniger Menschen.«
»Es ist Sommer«, sagte Alex. »Und wärmer. Ich schaff das schon.«
»Gut«, sagte Mom. »Die Entscheidung liegt bei dir, wir sind nicht deine Eltern. Mir geht es dabei vor allem um Julie. Warum bringst du sie nicht einfach mit dem Transporter ins Kloster und lieferst ihn dann auf dem Rückweg wieder hier ab?«
»Glaubst du im Ernst, der bringt ihn wieder zurück?«, fragte Matt.
»Natürlich tut er das!«, rief ich. »Das weiß ich genau.«
Alle starrten mich an.
»Ich vertraue ihm«, sagte ich mit brüchiger Stimme. » Wir können ihm vertrauen.«
»Alex, gibst du uns dein Ehrenwort, dass du den Transporter zurückbringst, sobald du Julie in Sicherheit weißt?«, fragte Mom.
»Mir reicht sein Ehrenwort nicht«, sagte Matt. »Hier geht’s schließlich ums Überleben. Wenn Dad schon nicht an Jon und Miranda denkt, muss ich es eben tun.«
»Ich werde Alex und Julie hinbringen«, sagte Dad. »Ich fahre sie zum Kloster und komm dann mit Alex zurück.«
»Dafür braucht ihr aber das ganze Benzin«, sagte Matt. »Der Transporter ist garantiert eine Spritschleuder.«
»Könnte Alex nicht eins von den Autos nehmen?«, fragte ich.
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