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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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ausgebreiteten Leintücher werden nach jedem Rütteln voller. Anton klettert auf einen andern Laubbaum, auf den nächsten …
    Bald haben wir alle Blechbüchsen gefüllt.
    Bei unserer Heimkehr schläft Konrad noch immer. Anton sagt, ich dürfe ihn nicht wecken. Er verschwindet in den unteren Stock. Lachend kehrt er ins Zimmer zurück. In seiner Hand hat er einen Maikäfer. Den setzt er Koni in den Nacken. Gespannt beobachten wir das krabbelnde Tierchen. Bei seinen dichten Locken scheint Koni nichts zu spüren. Plötzlich dauert mich der ahnungslose Bruder. Ich ergreife den Käfer, erschrecke wegen des seltsamen Kitzelns aber so sehr, dass ich ihn schnellstens wegwerfe – er landet in Antons offenem Mund. Entsetzt renne ich in mein Zimmer. Anton hinterher.
    »Rache ist süß«, schreit er schon das dritte Mal durch die verschlossene Tür.
    Zum Gartenfest kommen Großmama, alle Verwandten, die Cousins, Freunde der Eltern. Großpapa will uns lieber später besuchen. Vielleicht wegen Irmgard, sagt Mama. Onkel Heinrich hat statt der Walliserin diese Üsserschwizeri geheiratet, und erst noch ohne in die Kirche zu gehen. Frau Brückner hat ein Kleid mit einem Chiffonschal an. Damit wedelt sie herum, während sie ihr Gedicht vorträgt. Papa schlägt immer wieder mit seinem Bowle-Löffel an den Gefäßrand, damit die Gäste still sind und zuhören. »Das reimt sich ja nicht einmal!« Onkel Lorenz hätte das nicht so laut sagen sollen, Papa schaut ihn böse an. Am Schluss klatschen alle. Tanta Iris und Tanta Maja, die beide nur Buben haben, schwärmen schon wieder, wie gerne sie mal ein Mädchen bei sich hätten. »Du könntest in den nächsten Schulferien zuerst zu uns kommen und danach zu Tanta Maja gehen«, schlägt Tanta Iris vor. Aber ohne Mama und Papa will ich nicht fort. Ich tue erfreut und verdrücke mich, so schnell ich kann. Zwischen den vielen Leuten beobachte ich die ledigen Tanten. Sie sind zu Onkel Fred und Herrn Vonauen, dem zweiten Junggesellen, kaum netter als zu meinen Onkeln und den anderen verheirateten Männern. Dabei sind sie bald dreißig, und wenn eine Frau bis dreißig keinen Mann hat, wird es von Jahr zu Jahr schwieriger, keine alte Jungfer zu werden. Mama macht sich deshalb um ihre jüngsten Schwestern Sorgen. Besonders um Amanda. Die hat die Liebe ihres Lebens aufgeben müssen, weil er ein Reformierter ist, dazu noch ein Pfarrer. Schade, dass Onkel Hardi eine Frau hat, so wie der die Frauen beim Tanzen hält, würde er sicher jede Tanta gerne heiraten. Seine eigene Frau ist ja auch viel älter als er. Mama meint, sie habe sich deshalb das Gesicht strecken lassen, »ohne Kinder kann die sich so was leisten.«
    Die Cousins und ich schlafen bei meinen Brüdern. Mit Matratzen haben wir ein tolles Massenlager gebaut, deshalb gehen wir früher zu Bett, als wir müssten. Unten tanzen sie jetzt, da hört niemand, wie laut wir sind. Als die Buben aber aufs Vordach klettern, wird mir angst, ich will Hilfe holen. Beim untersten Treppenabsatz stolpere ich über zwei Menschen.
    »Psst, kein Licht machen!« Es ist Onkel Freds Stimme. Ich verschwinde sofort wieder hinauf in unser Zimmer und rufe die Dachkletterer herein: »Kommt, da unten schmusen zwei! Ihr müsst aber ganz leise sein und dürft kein Licht machen!«
    Einer macht trotzdem Licht. Da ist niemand mehr. Da sind einzig noch die Kleider, die wir bei einer Wette hinuntergeworfen haben.
    Die Frau auf der Treppe könnte Tanta Maja gewesen sein. Sie gleicht dem Filmstar Liselotte Pulver. Mama hat mir den Film erzählt, und dass alle Männer von dem hübschen Vreneli begeistert sind.
    »Mama, was ist die Liebe des Lebens eigentlich?«
    »Das ist der Mensch, den man heiratet.«
    »Wie weiß man denn, welcher der Richtige ist?«
    »Das spürt man.«
    »Und wenn man sich geirrt hat, scheidet man dann?«
    »Nein, scheiden darf man nicht.«
    »Aber Tanta Majas Mann ist doch auch geschieden.«
    »Gerade deshalb solltest du eben nicht darüber reden.«
    »Ich möchte später einen wie den Onkel Fred heiraten. Gefällt dir Onkel Fred auch, Mama?«
    »Der Fred gefällt doch allen Frauen.«
    Ich betrachte mich im Spiegel. »Warum hat mir der Liebgott bloß so rote Wangen gemacht? Und abstehende Ohren dazu!«
    »Würdest du weniger im Gesicht herumkratzen, wärst auch du ein hübsches Mädchen.«
    Ich kann nicht anders. Ich muss einfach an alle Schorfe. Etwas in mir macht das, ohne dass ich es will. Und auch die Häutchen um die Fingernägel reiße ich ab, bis es

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