Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
sein Lieblingsplatz. Die alte Couch hat Papa in die Praxis nach Grenchen genommen. So kann er sich zwischen den Patienten etwas hinlegen und ausruhen.
Ein Fräulein wie ein Filmstar
Das neue Praxisfräulein heißt Petra. Sie hat lange, blond gefärbte Haare und ist bei uns im Sportwagen vorgefahren, in einem Karmann Kabriolett. Anton hat sehen wollen, ob sich das Dach wirklich versenken lässt. Mehr als das Auto hat Mama imponiert, wie elegant sich Petra kleidet. Sie ist von zuhause aus reich und arbeitet nur aus Spaß. Das sind gute Voraussetzungen, sagt Papa. Er hat Petra aus über zehn Interessentinnen ausgewählt. Für ihn ist wichtig, wie die Frau aussieht, mit der er tagtäglich zusammen ist. Weil ihm Petras Stil gefällt, hat er Mama für das nächste Ballkleid gleich zu Petras Schneider geschickt. Aber jetzt ist sie nicht glücklich damit. Als sie es uns vorführt und sich im Wandspiegel betrachtet, sagt sie enttäuscht: »So teuer wie es ist, müsste es mir viel besser gefallen.«
Papa regt sich nicht auf.
Hingegen regt ihn die Telefonrechnung auf:»Du hängst die ganze Zeit am Apparat!« Und wie Mama nun auch noch Haushaltsgeld verlangt, sagt er: »Schon wieder keines mehr?« Mama beginnt zu weinen. Papa holt das Geld, gibt es ihr, küsst sie, und sie sagen einander wieder »Schpazzji«.
Papa will, dass Mama zum Essen auch etwas Wein nimmt und mit ihm auf eine seiner schönsten Arbeiten anstößt. Mama kennt die Patientin gut, sie war gestern mit ihr im Tearoom. »Nicht mehr wiederzuerkennen, was du aus Jacqueline gemacht hast! Auf diesem Gebiet bist du einfach eine Koryphäe!«
Papa legt Messer und Gabel ab und hebt seine beiden Mittel- und Zeigefinger fast rechtwinklig an die Lippen. »So herausgestanden sind ihre Zähne, und erst noch mit Lücken!«
Es ist heidenlustig, wenn er, ohne den Mund zu bewegen, spricht.
»Und jetzt«, erklärt uns Mama weiter, »solltet ihr sie sehen: Eine richtig schöne Frau ist sie geworden, jetzt gleicht sie sogar ein bisschen der Kim Novak!«
»Na ja«, schmunzelt Papa, »mit geschlossenen Lippen sah Jacqueline schon vorher gut aus.«
»Wenn sie so attraktiv ist, weshalb hat René dann trotzdem eine Jüngere genommen?«
»Wer, der Mann von der Frau mit den neuen Zähnen?«
»Bitte, Schazzji, misch dich nicht ständig in die Gespräche von Erwachsenen ein.«
Ich spiele mit meinen Freundinnen am liebsten Geschichten, die ich aus Mamas
Revue
kenne und mir von Woche zu Woche neu ausdenke. Aber auch heute will wieder jedes Mädchen nur die schöne Soraya oder eine ihrer Zofen sein – und ich, die Größte, muss den Kaiser spielen. In meiner nächsten Geschichte wird es um die Piaf gehen, dann muss die kleine Margrit die Sängerin sein. Oder ich sage, wir machen den Glöckner von Rotterdam… Kläri wird mit einem Schulterkissen unterm Pulli schon wie dieser Bucklige aussehen.
Zwischendurch dürfen wir aus der Küche nehmen, was uns passt. Das darf man bei anderen Kindern nicht, deshalb kommen alle gerne zu mir. Bei ihnen zuhause muss man sogar die Schuhe ausziehen oder darf gar nicht hineingehen. »Das soll mich nicht kümmern«, sagt Mama, »unser Miramon ist immer für alle offen!« Miramon heißt »bewundert die Berge« und war Großpapas Vorschlag. Onggi Schmid hat die Buchstaben aus Eisen geschmiedet und über der Eingangstür befestigt. Koni ist sehr stolz auf seinen Onggi. Und auch auf sein Tanti. Manchmal bringt er uns von ihnen Pilze aus dem Wald mit heim, dann gibt es Pilzschnitten. Vorgestern brachte er Früchtekuchen mit, der war viel besser als jener von Anna. Sobald Konrad groß ist, will er dasselbe Velosolex wie Onggi.
Mama und Papa tuscheln nur noch, wenn sie von Daniel Vonauen reden. Vor der Beerdigung zieht sich Mama zweimal um. »Du weißt, dass er Schwarz hasste«, höre ich Papa im Schlafzimmer sagen. Abends kommen sie mit einer Frau heim, die noch nie bei uns war. Aber die Eltern scheinen sie gut zu mögen.
»Ist diese Frau attraktiv«, frage ich Anton beim Znacht. Wir essen mit Anna in der Küche, weil die Erwachsenen allein sein wollen.
»Ich denke schon«, meint Anton.
Später schleiche ich mich wieder hinunter. Hinter der Schiebetür im Salon habe ich zwar nicht den ganzen Esstisch im Auge, doch zum Lauschen ist der Platz ideal. Allerdings muss ich ständig Blitz kraulen, damit er mich nicht verrät. Sie essen bei Kerzenlicht, es flackert wie an Weihnachten. Meistens reden nur Papa und Mama, sie sagen etwas, die Frau schweigt, und
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