Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
den seitlichen Tuchenden knapp über den Boden und schaukelt ihn hin und her. Dafür sind wir Älteren zu groß. Vor allem ich bin für mein Alter zu groß. Dabei wäre es wichtiger, dass meine Brüder in die Höhe wachsen, sagt Papa. Kleine Männer haben Komplexe, dann meinen sie, sie seien weniger als andere und tun so, als wären sie mehr als andere. Manchmal schaue ich meine Füße an und hoffe, dass wenigstens die nicht noch länger werden.
»Ist der Daniel Vonauen auf die gleiche Weise gestorben wie Herr Seidel?«
»Ja, ungefähr.«
»Machen denn nur Männer Suizid?«
»Woher kennst du dieses Wort?!« Papa fragt in einem Ton, als hätte ich geflucht.
»Darf man das Wort denn nicht sagen?«
»Doch, schon, aber man spricht nicht darüber.«
»Weil man sich nicht suzidieren darf?«
»Dieses Verb gibt es nicht, sag wenigstens: sich umbringen.«
»Natürlich darf man das nicht«, erklärt Mama, »du weißt ja genau, dass nur Gott allein über Leben und Sterben bestimmen kann.«
»Hat sich Onkel Josef eigentlich auch umgebracht?«
Mama sagt genau gleichzeitig »nein«, wie Papa »ja« sagt. Er putzt sich mit der Serviette den Mund sauber, nimmt einen Schluck Wein und findet, es sei Zeit, das Thema zu wechseln. Er geht zum Grammophon, um die Schallplatte zu wenden.
»Kannst du statt diesem Opernzeug nicht wieder mal Lothar Löffler auflegen«, schlägt Mama vergeblich vor. Sie blättert in ihrer
Sie und Er
weiter, ich setz mich auf die Couch dicht neben sie.
»Gell, das ist die wüste Piaf?«
»Weißt du, wenn die ihr
Je ne regrette rien
singt, dann vergisst man ihr Aussehen. Papa und ich haben sie in Paris ja erlebt – eine großartige Stimme!«
»Papa, schau, hier ist eure Piaf abgebildet!«
Papa hält den Zeigefinger an den Mund, er sitzt mit geschlossenen Augen in seinem Sessel.
»Darfst ihn nicht stören, wenn er an seiner
Traviata
ist«, sagt Mama.
Haben alle Reichen harte Herzen?
Anton verbringt jeden Sommer mit Großpapa, Tanta Bethli und Tanta Helen im Ferienhaus auf der Belalp. Dieses Jahr darf auch ich mit!
Ich habe mir das aber anders vorgestellt. Weder in unserem See können wir baden, noch Pilze oder Beeren sammeln. Seit wir hier sind, ist es kalt, es regnet, nichts als Nebel. Großpapa sagt, heute Nacht wird es sogar schneien.
»Schnee im Sommer, ist das ein Weltwunder?«
»Weißt du überhaupt, wie viele Weltwunder es gibt?«
Anton schaut mich mit einem Seitenblick zu Großpapa an und beginnt, sie aufzuzählen.
»Das erste Mausoleum der Welt hast du vergessen«, bemerkt Großpapa, während er sich die Pfeife ausklopft.
»Ah, ja, das Grabmal des Mausolos.«
»Denk doch einfach das nächste Mal an Mauseloch«, schlage ich Anton vor.
Der laute Motorenlärm treibt uns nach draußen.
Wir werfen uns eine Jacke über und laufen zum Hotel hinauf. Beim einstigen Tennisplatz stehen fremde Leute, ein Mann redet laut in ein Gerät und sagt nach jedem Satz: »Bitte melden!« Anton drängt nach vorne zu Onkel Andres. Ihm gehört das Hotel, doch hier scheint er gleichwohl nicht der Chef zu sein.
»Stell dir vor«, berichtet Anton aufgeregt, »der Hermann Geiger versucht zwei Bergsteiger zu retten!«
»Wer ist das?«
»He, das ist der beste Rettungsflieger, den es gibt, dem gelingt das bestimmt!«
Wie der Helikopter über dem Platz schwebt und zur Landung ansetzt, schickt uns Onkel Andres mit Handzeichen nach hinten. Bis der starke Wind vorbei ist, gehen wir bei der Kapelle in Deckung. Nun steigt ein Mann aus.
»Das ist der Geiger!«
Zwei ebenfalls weiß gekleidete Männer gehen zu ihm, andere Leute drängen sich vor – und wir sehen nichts mehr. Nachdem der Helikopter erneut aufgestiegen und weggeflogen ist, entdecken wir auf dem Platz etwas langes Schwarzes, mit Schnüren zugebunden …
»Da ist ein Toter drin«, sagt Anton.
Obwohl Anton noch bleiben möchte, kann ich ihn überreden, mit mir hinunter ins Chalet zu kommen.
In den Abendnachrichten sagt der Radiosprecher, an den Aletschhörnern seien zwei Engländer zu Tode gestürzt. Sogar unsere Belalp und Onkel Andres’ Hotel werden im Radio erwähnt!
Kaum hat Großpapa seinen Mittagsschlaf gemacht, ruft er meinen Bruder ins Büro. Ich darf nie mit, »d’Meitja soll nit schteere«. Großpapa nennt mich nie beim Namen. Anton behauptet, Großpapa wisse alles, dabei stimmt das gar nicht. Mit der Schneevoraussage jedenfalls hat er nicht recht gehabt: Ich habe gestern Abend beim Nachtgebet dem lieben Gott gesagt, dass unsere
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