Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
sie kichern. Die werde ich nicht zu meinem Geburtstag einladen.
Sobald Großmama aus dem Zug steigt, rennen Koni und ich um die Wette. Jeder will ihr den kleinen schwarzen Koffer zuerst abnehmen. Er ist nie schwer, Großmama beschränkt sich auf das Nötigste. Das ärgert Mama. Gleich nach der Begrüßung wirft sie Großmama vor, wieder nur diesen schäbigen Nylonmantel anzuhaben. »Sie haben so viele hübsche Kleider, mögen Sie Ihren neuen Regenmantel nicht?«
»Chleider sind doch nit so wichtig …«
»Großmama
«,
fragt Koni, »könntest du nicht mal etwas anderes als immer schwarz tragen?«
»Weißt du, Konrad, Schwarz ist die Farbe der Trauer.«
»Bist du denn immer immer traurig?«
»Sit dum Tod vam Papa Hans isch z Läbe halt anersch. Nach seinem Tod haben auch alle sechs Mädchen ein Jahr lang schwarz getragen.«
»Ja, und ausgehen durften wir ein ganzes Jahr lang auch nicht«, ergänzt Mama.
»Wäre das bei uns auch so, wenn Papa stirbt?«
»Red nicht so dummes Zeug!«
Großmama ist wegen der Pediküre nach Solothurn gekommen. In Bern verlangen sie für ein einziges Hühnerauge fast zwei Franken, »das ist doch unverschämt!« Sie trinkt gegen ihre Gewohnheit mit Papa ein Gläschen Wein zum Znacht. Ich glaube, sie ist wegen Tanta Amandas »guter Partie« so unbeschwert, richtig lustig ist sie! Für sie ist sogar der Abwart heute »en dummä Nool
«,
so etwas sagt sie sonst nie. In zwei Monaten ist die Hochzeit.
»Danach ist nur noch Bella ledig.«
Ich korrigiere Großmama: »Meine beiden Tanten von Naters, die haben doch auch noch keinen Mann!«
»Na ja«, sagt sie, »so intellektuelle Frauen will doch keiner …« Gerlinde kommt herein und bringt Großmama den Tee. Als sie wieder in der Küche verschwunden ist, sagt Großmama:
»Diese Österreicherin scheint mir aber sehr stolz, fer nur en Jungfröi z sii!«
Hat Gott das alles so gewollt?
»Du wirst ja immer dicker, du bist schon eine ganz dicke Frau!«
Koni berührt Mamas runden Bauch. Sie verrät ihm, was ich schon weiß: Wir bekommen noch ein Geschwister!
Mama hat unsere gedrechselte Wiege mit gelbem Stoff ausgefüttert, die Volants sind gelb mit weißen Streifen, auch alle Bébékleidchen sind gelb. Gelb ist jetzt Mamas Lieblingsfarbe.
Wir sind ganz aus dem Häuschen vor Ungeduld.
Aber das Geschwister will und will nicht kommen. Der Arzt rät Papa, mit Mama im
vw-Käfer
über holprige Wege zu fahren, damit es zünftig rüttelt. Wir tun das und haben unseren Spaß, Mama sitzt hinten, wo sonst wir sind.
Koni will bei mir schlafen. Wir vereinbaren, dass jeder beim Gebet an das Bébé denkt.
Am Sonntagmorgen platzt Papa ins Zimmer. Mama ist im Spital, das Schwesterchen ist gekommen, »es ist fest krank, ich muss gleich wieder hin.«
Papa kommt erst gegen Mittag zurück. »Gott hat euer kleines Schwesterlein schon wieder zu sich geholt.«
»Ist es tot?«
Er nickt langsam. Nie zuvor habe ich Papa mit tränennassen Augen gesehen.
»Das ist ein böser Liebgott«, schreie ich. Koni schlägt mehrmals den Kopf auf den Tisch. Und Gerlinde sagt leise: »Das Kind zu verlieren, ist etwas vom Schlimmsten, was einer Frau passieren kann.«
»Meine Frau braucht jetzt ihre Leute«, erklärt Papa, »wir fahren sofort nach Bern, wenn jemand telefoniert, geben Sie bitte keine Auskunft.«
In Biberist touchieren wir beinahe einen älteren Mann, der hinter anderen bei der Kirche über die Straße trottet. »Hopp, geh endlich rüber!«
Papa klopft mit den Fingern ungeduldig aufs Steuerrad. Auf geraden Strecken gibt er dermaßen Gas, dass der Zeiger auf Hundertzwanzig steht.
Großmama und die beiden Tanten steigen gerade aus dem Lift, als ich sie abholen will. Papa hält ihnen die Autotür auf, am Bahnhof kauft er gelbe Blumen.
Konrad und ich dürfen erst am übernächsten Tag zu Mama in die Klinik. Langsam kommt sie uns durch den Korridor entgegen. Sie ist wieder schlank, in ihrem dunkelroten engen Seidenmantel sieht sie wie eine Königin aus. Wir drücken uns beide an sie.
Am Abend helfen wir Papa, die Wiege und alle Kleidchen unterm Dach über dem Estrich zu verstecken. Mama soll bei ihrer Heimkehr an nichts mehr erinnert werden. Koni findet im abgeschrägten Winkel des Estrichs ein Bild, das er uns ganz aufgeregt zeigt. »Schaut, was ich gefunden habe!«
Papa nimmt es ihm aus der Hand, bläst den Staub weg, wischt die gläserne Oberseite mit dem Ärmel sauber. »Das ist eure Mama, bis zur Heirat hat sie diese langen schwarzen Zapfenlocken
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