Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
setzt sich neben mich und tastet mich ab. »Du hast ja nicht einmal einen Ansatz, du bist noch wie ein Bub! Schau, ich habe unten schon die ersten Härchen.«
»Sollen wir die Petitbeurres auch noch öffnen?«
Betty will nicht. Sie will jetzt, dass ich die Hose ausziehe, »tu doch nicht so katholisch!«
Ich schleiche mich durch die Garage in mein Zimmer, damit Mama nicht fragt, warum ich schon so früh zurück bin. Kaum habe ich es mir zwischen dem Fensterrahmen mit einem Micky Maus-Heft gemütlich gemacht, hält vor unserem Haus ein roter Sportwagen. So ein Auto habe ich noch nie gesehen. Es könnte ein MG sein, Papa gefallen die sehr. Bevor der Mann richtig ausgestiegen ist, sitzt Mama schon an seiner Seite. Ich beobachte, wie sie sich begrüßen.
Sie fahren zusammen weg.
Klara behauptet, sie könne sich beim Einschlafen sagen: So, jetzt träume ich etwas Schönes, und dann träume sie auch etwas Schönes. Ich habe mir etwas noch Besseres vorgenommen als sie: Ich male mir das Schlaraffenland aus und spaziere einfach hinein …
»Du hast geschrien, was ist los?« Mama steht an meinem Bett. »Ich habe wieder schlecht geträumt. So grausiges Zeug, ganz schlimm.«
»Was ist es denn dieses Mal gewesen? Schau, ich bin ja hier. Alles ist in Ordnung. Träume sind Schäume …«
»Aber Träume können auch ein Fingerzeig von Gott sein.«
»Wer erzählt so dummes Zeug?«
»Der Pfarrer.«
»Jaja, Pfarrer träumen halt anders. Schlaf jetzt wieder. Morgen, wenn Papa heimkommt, wollen wir beide güet zwäg si.«
»Darf ich für den Rest der Nacht zu dir kommen?«
»Ja, das ist vielleicht das Beste. In Papas Bett wirst du hoffentlich besser träumen.«
Bevor wir das Licht löschen, frage ich Mama, was
ausarten
ist, »das tönt irgendwie schlimm …«
»Äh wa! Dasch doch nix schlimms. Das heißt einfach, dass manchmal etwas anders kommt, als man angenommen hat.« »Auch anders, als man will?«
»Ja, manchmal schon. Aber, Schazzji, bitte lass mich schlafen.«
»Ich mag dieses Wort irgendwie nicht.«
»Hör mal, ich werde mit dir sicher nicht um vier Uhr morgens über Wörter diskutieren!«
Nach einer Weile sage ich: »Gell Mama, dich hat heute ein Mann in einem roten Auto abgeholt?«
Ich habe es leise gefragt für den Fall, dass sie schon schläft.
Benedikt zwingt mich zur Notlüge
Am Waldrand, hinter etwas Gebüsch, habe ich einen kleinen Altar aufgebaut. Jetzt will ich davor noch einen Platz frei wischen, danach ist mein Ort bereit. Ich trage wieder den in der Wäsche eingegangenen Pulli von Tanta Isabella, der unheimlich kratzt. Damit lerne ich, unangenehme Dinge auszuhalten. Wenn ich nicht ganz glücklich bin, ist es leichter, fromm zu sein. Obwohl ich mir manchmal die verrücktesten Dinge ausdenke, weiß ich, dass ich nichts erwarten darf; was die Bernadette von Lourdes erlebt hat, passiert nur alle paar hundert Jahre mal.
Dort kommt der Benedikt! Ich laufe ihm entgegen, hinaus auf den Waldweg, damit er meinen Altar nicht entdeckt. Wir bleiben voreinander stehen.
»Was willst du denn damit?!« Er zeigt auf meinen Reisigbesen. »Er ist hier herumgelegen, den hat wahrscheinlich jemand fortgeworfen.«
»Was? Der ist quasi neu!« Er nimmt ihn mir aus der Hand.
»Kannst ihn ja behalten.«
»Aber sicher behalt ich den. Mein Großvater wird Augen machen!«
Ich schleiche Benedikt nach und beobachte, wie er mit unserem Reisigbesen im Nachbarhaus verschwindet.
»Ma dov’ è questa maledetta scopa?!« Ausgerechnet heute will Mariella die Garageneinfahrt kehren.
»Warte«, sage ich zu ihr, »ich schau mal im Keller nach.« Auch hinter der Garage, bei den Gartengeräten, halte ich nach dem verdammten Besen Ausschau.
»Sai«, erkläre ich Mariella, »das sind sicher die Zigeuner gewesen, die klauen im ganzen Quartier Dinge, um sie anderswo wieder zu verkaufen, gli zingari, capisci? »
Mama fragt glücklicherweise nicht lange nach. Auf dem Weg in die Stadt wird sie bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaft vorbeifahren und einen neuen Besen kaufen. Gut gelaunt steigt sie ins Auto.
Beim Nachtessen ereifert sich Papa über »dieses Zigeunerpack!« Mama gibt ihm recht. »Künftig kriegen die unsere Scheren und Messer nicht mehr zum Schleifen, zumindest nicht die silbernen!«
»Besen zu stehlen ist doch nicht so schlimm«, sage ich.
»Ja, geschter der Bäse, more Mamas Schmuck und ubermore mis Auto!«
»Die fahren selber neuere Modelle …«
Mamas Witzchen nimmt Papa glücklicherweise zum Anlass, das Thema
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