Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
hast du am Kreuz geopfert, um uns zu frohen Kindern zu machen. Ich aber bin dir undankbar gewesen, ich habe dir deine Liebe mit Sünden und Fehlern vergolten. Lieber Heiland, ich bin dir untreu gewesen. Ich habe dich im Stich gelassen und deiner heiligen Kirche Schande bereitet. Ich will nicht mehr sündigen und auch die Gelegenheit zur Sünde meiden. Verzeih mir barmherziger Vater. Amen
.
Gebetbuch zu – und im Schuss hinein in das Beichthäuschen. »Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit Amen.« Die Stimme verunsichert mich. Bin ich etwa beim alten Pfarrer gelandet – nicht beim Vikar?! Aus Schreck verhasple ich mich.
»Ganz ruhig, mein Kind. Beginne nochmals von vorne.«
»Ich bin eine arme Sünderin und habe vor zwei Wochen das letzte Mal gebeichtet. Seither habe ich folgende Sünden begangen. Viertes Gebot, du sollst Vater und Mutter ehren: Ich habe mir zu wenig Mühe gegeben, Dankbarkeit zu zeigen. Fünftes Gebot, du sollst nicht töten: Ich bin auf die Reformierten neidisch gewesen und auf eine Freundin. Sechstes und neuntes Gebot, du sollst nicht Unkeuschheit treiben: Ich habe mir wieder das schöne Gefühl gemacht, aber ich habe versucht, dabei nicht glücklich zu sein. Siebtes und zehntes Gebot, du sollst nicht stehlen: Ich habe die Mütze von dem Mädchen, auf das ich neidisch gewesen bin, hinter alten Schulbänken versteckt, und als ich sie wieder herausziehen wollte, ging sie kaputt, da habe ich sie in den Kehrichteimer gedrückt, aber die Lehrerin …«
»Schon gut. Hast du noch andere Sünden zu beichten?«
»Ja. Achtes Gebot, du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten: Ich habe gesagt, die Zigeuner hätten überall Besen gestohlen.«
»Und sonst?«
»Nur Besen.«
Der Beichtvater gibt mir nach der Absolution vier Vaterunser zur Buße. Als weitere Buße soll ich versprechen, etwas zu tun, das ich sonst nie tun oder zumindest sehr ungern tun würde. Heim durch den Wald?
Auf dem Kirchplatz spielt niemand mehr. Nur zwei alte Männer stehen da, sie reden zusammen beim Treppenabgang. Der eine ist Tschumi, der Dorfsüffel, man kennt ihn von weitem an seinen kurzen O-Beinen. Ich nehme an der Seitentür meinen Sportsack vom Boden und mache einen Bogen um die beiden.
Der Trampelpfad auf der Ostseite des Birchiwaldes ist noch unheimlicher, als ich befürchtet habe. Wenn ich mir auf diesen Wurzeln bloß kein Bein verdrehe, mich würde keiner finden!
Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein, schütz, regier und leite mich. Amen
.
In der Abendsonne sehen die langen Schatten der Bäume gespenstisch aus, besonders die Äste, die sich im Wind bewegen. In ein paar Minuten sollte ich bei der Abzweigung sein, wo der Birchiweg heraufkommt, dort ist es lichter.
Morge-früe wenn z Sunne lacht und si alles luschtig macht
… Ein Schreck erstickt mein leises Singen: Was ist dort? Was ist das, jene komische Silhouette neben dem dicken Baumstamm?! Das ist kein Schatten, das ist … ein Mann! Dort hängt ein Mensch!
»Mama! Mama!«
Ich laufe so schnell ich kann davon. Ein Holzfäller stellt sich mir in den Weg. »Was ist denn los mit dir, warum schreist du nach deiner Mutter und rennst wie vom Teufel gestochen durch den Wald?«
»Dort!«
Er greift nach meinem Arm. »Was ist dort? Jetzt atme erst mal richtig durch.«
»Ein Gehängter! Einer hat sich aufgehängt …«
»Was? Bist du sicher?«
»Ja! Ganz sicher, vor dem großen Rank! Er hat eine Schnur um den Hals, sein Kopf ist ganz schräg.«
Beim Gutnachtsagen lässt sich Mama Zeit. Sie sitzt auf meinem Bettrand und berichtet mir, was sie beim Telefonieren mit verschiedenen Leuten herausgefunden hat. Es ist so, wie ich behaupte. Hinter der Feuerstelle hat sich ein Mann erhängt.
»Weshalb hat er das gemacht?«
»Weshalb? Die Polizei weiß ja noch nicht einmal, wer es ist! Näheres werden wir wahrscheinlich ohnehin nie erfahren. Selbstmorde sind eine heikle Sache. Du musst dieses scheußliche Bild ganz schnell wieder vergessen, versprochen? Solche Dinge sind nichts für Kinder.«
Wir schweigen für die Ungarn
August hat seine Schulaufgaben wieder falsch gemacht. Auf die Schimpferei des Lehrers reagiert er mit Achselzucken.
»Deine Dummheit schreit zum Himmel!«
Wutentbrannt geht Herr Übelhart nach hinten. Er zerrt den Buben durch den Mittelgang. August versucht vergeblich, sich am Harmonium festzuhalten. Schützend hält er seinen Ellbogen vors Gesicht. Dabei schlägt sein Kopf so unglücklich gegen den Kopf unseres Lehrers,
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