Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
dass diesem das Gebiss heraus- und auf das Pult von Klara und mir fällt. Angewidert starren wir auf das nasse rosa Ding, während der dünne Lehrer den kräftigen August Richtung Tür zerrt. Ich hebe das Gebiss mit meinem Fließblatt auf und strecke es Herrn Übelhart entgegen. Sofort setzt er die Zähne wieder in den Mund. Speichel rinnt ihm seitlich heraus. Seine Daumenspitzen kontrollieren, ob es hält. Wie ein uralter Mann, außer Atem und mit hochrotem Gesicht, humpelt er zur Wandtafel. Er tut mir einerseits leid, anderseits: Hätte er sich das Bein verrenkt, würde uns Fräulein Ris eine Weile Turnen geben. Bei ihr muss man nicht ständig nur Freiübungen machen.
Plötzlich wirft Herr Übelhart die Kreide auf das Pult, grapscht nach seiner Taschenuhr, wendet sich um und schreit: »Verdammt, wegen diesem Lümmel hätten wir es fast verpasst! Los, holt ihn wieder herein!«
»Hopp hopp!«
»Setz dich! Aber sofort!«
»Jetzt alle aufstehen! Drei Minuten für die Ungarn! Und totale Ruhe, sonst lernt ihr mich kennen!«
Noch nie ist es in unserem Schulzimmer so still gewesen. Kein Mucks. Bloß die Glocken der Kirche sind zu hören. Ich schließe die Augen. Ganz hinten hüstelt jemand ziemlich auffällig. So etwas traut sich nur August! Der ist nicht unterzukriegen. Es scheint ihm auch nichts auszumachen, dass ihn die Buben mit »dummer Augustin« hänseln. Meine Eltern meinten, ich solle mit gutem Beispiel vorangehen und ihn beim richtigen Namen nennen. Christian heißt er, Christian Zündelmeier. Aber meine Freundinnen wollen mich nicht unterstützen. Nicht einmal Margrit, obwohl ihre Familie ja nun auch in den Sozialblöcken wohnt und sie die Zündelmeiers bestimmt kennen. Auf dem letzten Jahrmarkt jedenfalls hat sie mir Augusts Eltern gezeigt; die sind beide so dick, die hatten nicht einmal im gleichen Putschauto Platz! Margrit und ich sind hinter Augusts Mutter hergefahren und haben sie dauernd geputscht …
»Setzt euch!«
Als ich die Augen öffne, steht Herr Übelhart vor mir: »Was haben die Ungarn und die Russen gemeinsam?« Er gibt die Antwort gottlob selber: »Eben nichts! Die einen wollen Frieden und Freiheit, die anderen Krieg …«
Mit den Händen auf dem Rücken geht er nun vorne hin und her und redet und redet – und wir können uns zurücklehnen. Das ist immer so: Erst wenn er ins Stocken gerät, erinnert er sich an uns. Dann sagt er: »Wo bin ich geblieben?« – so laut, dass wir wieder aufmerksam sind. Weil die Schulhausglocke läutet, nimmt Lehrer Übelhart den Faden heute nach seinem »Wobinichgeblieben« nicht mehr auf. Allerdings entlässt er uns nicht ohne Aufgaben in den Mittag. »Bis heute in einer Woche schreibt ihr einen Aufsatz mit dem Titel: Krieg und Frieden. Verstanden!?«
»Du, Zündelmeier, schreibst zusätzlich bis morgen zwei Strafseiten lang: ›In Zukunft werde ich mir bei den Hausaufgaben mehr Mühe geben.‹ Verstanden?!«
Emil muss noch die Wandtafel putzen, ich mache absichtlich langsam, damit wir zusammen aus dem Schulzimmer gehen können.
Beim Mittagessen erzählen wir einander alle, wo wir während der Schweigeminuten gewesen sind.
»Und du hast wirklich zu bohren aufgehört«, will Koni von Papa wissen.
Papa fragt, wie weit wir über Ungarn und die dortigen Geschehnisse informiert worden sind.
»Das Kindergartenfräulein hat uns nichts gesagt.«
Papa schaut zu mir. »Und der Übelhart?«
»Der hat etwas von Revolution und Solidität und so erzählt.«
»Soli-darität!«
»Das heißt mitfühlen, Verständnis zeigen«, ergänzt Mama.
»Kommt das von solide?«
Papa ärgert sich, dass ich an Wörtern mehr interessiert bin als an der Politik. Möglichst schnell knüpfe ich mit einer Frage wieder an sein Thema an.
»Also«, fährt er fort, »die Kommunisten haben in Ungarn eine der grausamsten Diktaturen errichtet. Auch nach Stalin hat sich nichts geändert, und die Ungarn haben sich nun mit einer Revolution zu wehren versucht. Diese haben die Russen aber blutig niedergeschlagen, es hat Tote und massenhaft Verletzte gegeben …«
»Deshalb kommen eben so viele Flüchtlinge in die Schweiz«, sagt Mama.
»Nehmen wir auch einen Flüchtling auf?«
»Nun, allzu weit muss die Solidarität ja auch nicht gehen. Die Ungarn werden in Heimen und Hotels untergebracht, die haben es dort gut.«
»Unser Aufsatzthema heißt
Krieg und Frieden
.«
»Lächerlich!« Mama findet, es gäbe genug andere Themen für Kinder. Papa holt aus seiner Bibliothek ein Buch und sagt
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