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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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auf den Tausch seines Autos zu lenken. Das weckt Konis Interesse: »Noch ein größeres als der Schtudebecker?«
    »Nein, nein, nur ein kleiner Sportwagen, derselbe, den Amacher hat, aber natürlich nicht rot.«
    »Hat Herr Amacher einen MG «, frage ich.
    »Ja«, sagt Papa, »knallrot.«
    Mama will jetzt von anderem reden. Sie befürchtet, Mariella könnte von ihrer Freundin aufgehetzt werden und auch die Stelle wechseln wollen.
    »Nera beginnt nächsten Monat in der Fabrik«, erklärt sie Papa. »Und?«
    »Sie verdient dort mehr, hat am Wochenende frei …«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagt Papa zuversichtlich, »Mariella wird schon nicht fortgehen. Was man in der Fabrik mehr verdient, geht doch gleich wieder für Kost und Logis drauf. Zudem, man stelle sich vor: tagein tagaus am Fließband dieselben Bewegungen!«
    Auf dem Weg zur Schule laufe ich noch schnell beim Zigeunerplatz durch: Wären die Zigeuner tatsächlich in Zuchwil, hätte ich nur halbwegs gelogen … In der Grube sind jedoch keine Wohnwagen. Nur rostige Fässer stehen herum und anderes Gerümpel.
Lieber hundert Vaterunser
als noch einmal allein durch den Wald
    Auf dem Kirchenplatz spielen drei Mädchen, die die Beichte schon hinter sich haben, Himmel und Hölle. »Hast du das Springseil mit«, fragen sie von weitem. Ich zeige auf meinen Sportsack, die versprochenen Tennisbälle sind auch drin. Doch bevor ich meinen Spielspaß haben kann, muss ich beichten. Und zwar die lange Variante mit dem Kindergebetbuch; eine Stimme in mir verlangt das.
    Heiliger Geist, ich will eine gute Beichte machen. Du kennst mich viel besser als ich selbst, weißt alle meine Gedanken, jedes Wort, auch die geheimste Tat. Erleuchte mich, dass ich meine Sünden und Fehler erkenne und nichts vergesse, gib mir den Mut, aufrichtig zu sein, und hilf auch meinem Beichtvater, dass er das Rechte für mich finde. Heilige Mutter Maria, Mutter Gottes, heiliger Namenspatron, heiliger Schutzengel, bittet für mich. Amen
.
    Habe ich die Eltern geärgert?
    Gebe ich mir Mühe, meinen Eltern dankbar zu sein?
    Helfe ich ihnen gerne?
    Wie bin ich gegen andere, Tanten, Großvater, Großmutter, Dienstmädchen?
    Wem gehorche ich am wenigsten?
    Zur Gewissenserforschung lege ich vor jedem neuen Gebot beide Hände vors Gesicht. Die Erwachsenen machen es auch so, das sieht viel andächtiger aus, als nur dazuknien wie das Mädchen neben mir. Es ist die Rosi aus der oberen Klasse. Ich spüre, wie sie mir zuschaut.
    Bin ich neidisch gewesen?
    Habe ich Fehler von anderen weitererzählt?
    Reize ich die anderen gerne zum Streit?
    Kann ich nie nachgeben?
    Bin ich hilfsbereit und freigiebig?
    Das sechste Gebot ist kompliziert, ich lese es ein zweites Mal:
Wenn du etwas Unkeusches getan hast und hast vorher nicht gewusst, dass es unrecht ist, so hast du keine Sünde begangen. Solange du gegen schlechte Gedanken gekämpft hast, hast du etwas Gutes getan, nicht gesündigt. Wenn du nicht genau Bescheid weißt über etwas, frage deine Eltern oder einen Priester, nie deine Kameraden!
    Meine Eltern und den Pfarrer? Die sagen ja doch nie, wie das genau geht mit dem Kinderhaben. Gerda behauptet, nach einem Zungenkuss könne man ein Bébé bekommen. Kläri weiß leider auch nicht, ob das stimmt. Papa findet: Zungekiss sind grüsig …
    Während ich hinter meinen Händen die Sünden des sechsten Gebots erforsche, drängt Rosi durch. »Mach mal Platz, du brauchst ja eine Ewigkeit«, flüstert sie mir ins Ohr.
    Habe ich etwas genommen, das nicht mir gehört?
    Habe ich fremde Sachen absichtlich beschädigt?
    Habe ich Geliehenes und Gefundenes behalten?
    Habe ich genascht?
    Bin ich sparsam?
    Gebe ich auf meine Sachen gut acht?
    Bin ich zufrieden mit dem, was ich bekomme?
    Das achte Gebot ist Gottlob wieder ein kurzes:
    Habe ich absichtlich gelogen?
    Habe ich über andere Unwahres ausgesagt?
    Bin ich ehrlich und aufrichtig?
    Verstelle ich mich?
    Noch bin ich am Reuegebet, da kommt Rosi schon wieder aus dem Beichthäuschen. Ich nicke der nachgerückten Frau neben mir zu. Sie nickt auch. Ich zeige mit dem Finger zum Beichthäuschen und bedeute ihr, vor mir hineinzugehen – sie rührt sich nicht.
    Lieber Vater im Himmel! Ich habe meine Sünden gefunden und bereue sie aufrichtig. Alles Schöne in der Welt hast du geschaffen, deinen einzigen Sohn hast du am Kreuz geopfert, um uns zu frohen Kindern

    Der Beichtvater schiebt den Vorhang zur Seite, seine Hand macht das Zeichen zu kommen. Ich beeile mich: …
deinen einzigen Sohn

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