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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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zu mir: »Hier, lies den Titel! Das ist der Roman von Tolstoj. Tolstoj ist einer der größten Dichter gewesen, sein Hauptwerk …« Mama unterbricht ihn: »Du willst den Kindern doch nicht die ganze Biographie von Tolstoj erzählen, in ihrem Alter interessiert sie solches weiß Gott nicht!«
    »Und dich? Hast du ihn überhaupt gelesen?!«
    Papa sagt das wie ein Vorwurf. Mama hält sich die Hände vors Gesicht, steht auf und geht aus dem Zimmer. Papa läuft ihr hinterher.
    »Weshalb weint Mama«, fragt Koni.
    »Ich weiß es nicht genau, aber ich nehme an, nicht bloß wegen diesem Dichter.«
    »Vielleicht wegen den armen Flüchtlingen?«
    »Nein, glaube ich nicht, wir kennen ja keinen.«

VI
    Onkel Heinrich und seine Frau wollen ihren kleinen Buben mitbringen, deshalb hat Papa schlechte Laune.
    »Das ganze Wochenende wollen sie mit diesem verwöhnten Saugof hierbleiben?«
    »Schließlich ist Heinrich dein Bruder«, sagt Mama. »Er will doch mit dir diese Sache wegen seiner Anwaltspraxis besprechen.«
    »Eben, warum kommt er dann nicht allein?«
    »Weil wir sie alle eingeladen haben.«
    »Was heißt wir – du hast sie eingeladen!«
    Am Samstag kann ich den Blauring schwänzen, dafür muss ich Heinchen hüten. Ich soll nicht zu lange wegbleiben, sagt Tanta Irmgard. Und Mama sagt unter der Tür: »Kommt um Gotteswillen nicht vor dem Nachtessen zurück!«
    Warum mit dem kleinen Cousin nicht zu Margrit. Die ist gewiss dankbar für meinen Besuch, so muss sie weniger arbeiten.
    Seit ihre Eltern in dem langen Wohnblock am Dorfrand von Zuchwil Hausmeister sind, muss sie hart zupacken, ihre Schulaufgaben kommen dabei meistens zu kurz. Lehrer Übelhart schreit sie deswegen in letzter Zeit oft an, gestern begann sie sogar zu weinen. Als ihr Tränen über die roten Wangen liefen, habe ich an meine eigenen roten Backen gedacht und mir vorgestellt, dass ich genauso hässlich aussehe wie sie, wenn ich weine.
    Margrit freut sich wirklich über mein Kommen, sie überwacht auf der Spielwiese ihre jüngeren Geschwister. Aber Heinchen will nicht mit ihnen spielen. Er wirft lieber seine Mütze und die Fausthandschuhe in die Pfützen, auf denen er die dünne Eisschicht eingetrampelt hat. Die Banane zum Zvieri spuckt er wieder aus. Zufrieden ist er erst, nachdem wir sie zu Mus gemantscht haben.
    »Du, Margrit, wie ist das eigentlich genau mit dem Eisernen Vorhang, könnte es wirklich einen Krieg geben?«
    Sie sieht mich gleichgültig an und kaut weiter auf ihrem Süßholzstengel herum.
    »Dein Vater ist doch Kommunist, weiß er nicht Näheres über die Russen?«
    Ich merke, dass Margrit noch weniger versteht als ich. Und da ist sowieso schon wieder Heinchen, der unsere Aufmerksamkeit will.
    Bevor ich heimgehe, zieht mich Margrit ins Untergeschoß zum Kellerabteil der Familie. Ihre Geschwister sollen auf der Wiese bleiben.
    »Schau mal, was wir hier haben!« Sie bückt sich zu einer Kiste und zieht unter Taschen, Büchern und Geschirr ein paar lederne Schlittschuhe heraus.
    »Woher hast du die?«
    »Meine Mutter hat bei einer Familie geputzt, die jetzt ins Ausland ist und nicht alles mitnehmen konnte. Nun haben wir alle diese Sachen bekommen. Was meinst du, möchtet ihr vielleicht etwas davon kaufen?«
    Ich habe mich inzwischen auf den Boden gesetzt und den ersten Schlittschuh anprobiert und geschnürt, »fast wie neu!« Meine laute Freude entlockt Heinchen einen Jauchzer. Er hockt in der Bierharrasse auf den Kartoffeln und spielt Kapitän. Als er beginnt, die Kartoffeln wie Bälle über Bord zu schmeißen, droht ihm Margrit mit erhobenem Finger: »Bürschchen, hör sofort auf damit, sonst holt dich der Deubelbeiss!«
    Sie hat das so bedrohlich gesagt, dass auch ich ein bisschen erschrecke.
    »Wie nennst du den Teufel?«
    »Der Deubelbeiss ist schlimmer als der Teufel! Kennst du den nicht? Das ist doch der größte Gangster, der schießt …«
    »Auf Menschen?«
    »Keine Angst, ich glaube, er ist im Gefängnis.«
    Sie schaut hinunter und zeigt auf den zweiten Schlittschuh.
    »Zieh den auch an, probier beide. Frag doch deine Eltern, vielleicht kaufen sie sie dir.«
    »Ich habe ja die Anschraubiseli, zudem würden meine Eltern nie etwas von …«
    »… uns kaufen?«
    »Du, ich muss jetzt sowieso heim.«
    Ich schlüpfe wieder in meine Stiefel, sammle die am Boden herumliegenden Kartoffeln ein und hebe Heinchen aus seiner Bierharrasse. »Schiff«, brüllt er, als ob ich ihm wehgetan hätte.
    Abends äußert Irmgard bei Tisch ihre Wut, weil die

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