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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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dem Weg nach Kanada«, sagte er. »Wir werden uns sicher lange nicht mehr sehen.«
    »Und wie können wir dich finden?«, fragte ich. So unterschiedlich wir auch waren, liebte ich meinen Bruder dennoch heiß und innig und konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
    »Vermutlich lasse ich mich in British Columbia nieder«, sagte er. »Da fährt ein Typ hin, den ich kenne. Vielleicht werde ich Fischer.«
    Ich versuchte mir meinen Bruder auf einem Boot vorzustellen. Er schien mir nicht gerade für den Beruf des Fischers geeignet zu sein – aber wofür er überhaupt geeignet war, ließ sich schwer sagen. Er konnte beim Basketball den fantastischsten Hookshot machen, den man je gesehen hatte, und ging dann kurz vor dem Endspiel nicht mehr zum Training. Er las mir drei Monate lang jeden Abend aus Herr der Ringe vor und danach nie wieder. Er konnte einen ganzen Tag lang an einem Baum lehnen und wunderschön Mundharmonika spielen, aber wenn ihn jemand fragte, ob er in eine Band einsteigen wolle, zuckte er die Achseln und sagte, er könne nicht richtig spielen.
    »Du musst uns anrufen, wenn du dort bist«, sagte ich. »Ich muss dich doch finden können.«
    »Es geht aber genau darum, nicht gefunden zu werden, sondern spurlos zu verschwinden«, erwiderte er.
    »Wenn du verschwindest, hab ich gar niemanden mehr«, sagte ich. Damals war ich zwanzig, und ich wusste schon lange, dass bei Val und George nur Verlass auf ihre Unzuverlässigkeit war.
    »Du wirst denselben Menschen haben wie immer, Dana«, sagte Ray. »Dich selbst. Die einzige zuverlässige Person in der ganzen Familie.«
    Und damit verschwand er. Im Gegensatz zu George gab es von Ray keine Postkarten mit vielen Ausrufezeichen und überschwänglichen Äußerungen zu garantierten Erfolgen. Ray ging nach Kanada und blieb verschwunden.
    Bevor er auflegte, sagte er noch: »Wenn sie zu euch kommen, wirst du wahrheitsgemäß behaupten können, dass du nicht weißt, wo ich bin.«
    Und tatsächlich tauchte bald darauf ein Mann in Uniform bei uns auf. Er überreichte Val ein Schreiben und sagte ihr, Ray gelte nun als Straftäter, weil er in Kriegszeiten den Wehrdienst verweigere. Und unter diesen Umständen zu verschwinden galt zusätzlich als Straftat. Dieses Schreiben warf Val nicht einfach in den Mülleimer. Sie verbrannte es.
    Wenn wir manchmal an Abenden, an denen ich nicht arbeitete, zusammen fernsahen und Berichte über Vietnam kamen, schüttelte Val den Kopf, als fände sie es irgendwie tröstlich, die Söhne anderer Mütter mit ihren Helmen und Splitterschutzwesten und den verstörten Gesichtern zu sehen.
    »Wenigstens ist er nicht dort«, sagte sie dann immer, wenn Bilder von zerbombten Dörfern und Soldaten, die mit Fallschirmen über dem Dschungel absprangen, gezeigt wurden. So viel Sorge um ihren Sohn hatte ich nie bei ihr erlebt, als Ray noch bei uns war.
    Ich träumte auch vom Verschwinden, aber mein Ziel war die Universität, für die ich schon seit Jahren Geld sparte. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Frau in einem langen Kleid mit ausgebreiteten Armen auf mich zukommen. Ich selbst trug niemals Kleider, aber es gefiel mir bei anderen Frauen. Diese Frau streichelte meine Schultern und mein Gesicht, wie ich es noch nie in Wirklichkeit erlebt hatte. Ich strich ihr durchs Haar. Wir waren irgendwo auf dem Land, alleine. Das deutlichste Bild, das ich von diesem Ort vor mir hatte: die Stelle im Maisfeld von Edwin Plank, an der ich damals gelegen hatte, den Geschmack von Erdbeeren auf den Lippen, Sonnenstrahlen auf der Brust und den Duft von frischgemähten Wiesen in der Nase.

Ruth
    Aktzeichnen
    I m ersten Semester nahm Aktzeichnen einen großen Raum ein.
    Wir hatten jeden Tag Aktmodelle, männliche oder weibliche. Mir fiel auf, dass ich die Männer nicht begehrte, sondern sie mit so nüchternem Blick betrachtete wie ein Arzt einen Patienten auf dem Operationstisch. Ob ich eine Hand, einen Blumenstrauß in einer Vase oder den unbekleideten Körper eines Mannes zeichnen sollte, war mir einerlei. Ich wollte es nur besonders gut machen.
    Was mir gelang. Zwei Wochen nach Beginn des Semesters nahm meine Dozentin mich beiseite. »Sie haben ein großes Talent für figürliches Zeichnen, Ruth«, sagte sie. »Ich würde Sie gerne in meinem Fortgeschrittenenkurs sehen.«
    Ich belegte auch Kurse in Farbtheorie und Kunstgeschichte und grafischen Druckverfahren, aber Akt- und Objektzeichnen liebte ich am meisten. Ich zeichnete nun ständig, und meine Wochenenden

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