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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Chip angerufen, den Jungen, mit dem sie seit anderthalb Jahren zusammen war, und hatte sich von ihm abholen lassen.
    In einem Moment seltener Nähe zwischen uns auf der Fahrt zum Festival hatte mir Winnie gestanden, dass sie Chip langweilig und unattraktiv fand (was ich gut nachvollziehen konnte), aber das Woodstock-Erlebnis stellte für meine Schwester offenbar den Wendepunkt in dieser Beziehung dar. Eine Woche nach ihrer Rückkehr verlobten sich die beiden, und ein Jahr später heirateten sie. Und neun Monate später bekam meine Mutter ihr erstes Enkelkind, Charles junior, seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, mit Pickeln und allem Drum und Dran.
    Ray und ich dagegen waren verrückt nacheinander. Jahrelang hatte er meine Fantasien beherrscht, nun war er bei mir, und meine Hände konnten nicht mehr von ihm lassen. Und ihm ging es genauso.
    Was danach geschah, habe ich nur noch verschwommen in Erinnerung. Als das Festival zu Ende war, wanderten wir wie Flüchtlinge aus einem kriegsversehrten Land über die verwüsteten, mit Abfall übersäten Felder von Max Yasgurs einstiger Farm. Die Wirkung der Drogen hatte nachgelassen, und als Farmerstochter fragte ich mich, ob diese Erde jemals wieder fruchtbar sein würde. Obwohl in jenen Tagen auf dem Gelände sicher viele Kinder gezeugt wurden.
    Doch ich verließ Woodstock als Jungfrau. An der Straße, wo Scharen verdreckter Hippies den Daumen hochhielten und mit Blumenstickern beklebte VW -Busse so langsam dahinkrochen wie bei einem Trauerzug, trennte sich Ray vollkommen abrupt von mir.
    »Wir sehen uns bestimmt mal wieder«, sagte er und stieg in einen Wagen, auf dessen Windschutzscheibe »Westen« stand. Derselbe Mann, der noch Stunden zuvor meinen Körper mit Küssen bedeckt hatte, verschwand nun so lässig, als wolle er im Laden um die Ecke eine Packung Milch kaufen. Da ich nichts anderes vorhatte und wusste, dass in drei Wochen mein Kunststudium in Boston beginnen würde – mein Lebenstraum –, winkte ich ihm nur zu und rief »Peace«. Aber danach im Bus weinte ich.
    Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, sagten meine Eltern weniger über meine Abwesenheit, als ich erwartet hatte. Zum Teil hatte das sicher mit der Mondlandung zu tun, die in aller Munde war. Es gab auch einen Besorgnis erregenden Maiszünslerbefall und den Freudentaumel meiner Mutter über die Nachricht, dass Winnie und Chip sich verlobt hatten. Doch vor allem, glaube ich, wollte meine Mutter lieber gar nicht wissen, was ich in den Tagen alles getrieben hatte. Es war sicherer, stillschweigend darüber hinwegzugehen.

Dana
    Kanada
    K urz nachdem mein Bruder im Herbst 1969 nach San Francisco aufgebrochen war, um in Haight-Ashbury zu leben, traf der erste Einberufungsbefehl ein. Ray hatte sich natürlich nicht registrieren lassen – was er schon vor Jahren hätte tun müssen –, aber nun hatten sie ihn trotz unserer häufigen Umzüge gefunden.
    George kümmerte sich nie um Strafzettel, wenn er auf seinen vielen Reisen mal wieder zu schnell gefahren war, und scherte sich auch nicht um die ganzen anderen Mahnungen und Bußgelder, die uns von einem Ort zum nächsten nachgeschickt wurden. Als das Schreiben für meinen Bruder eintraf, war George in Hollywood, aber er hätte sich ohnehin nicht darum gekümmert, und Val war im Umgang mit solchen Dingen ebenso unfähig. Als sie den Brief las, sah sie einen Moment lang ängstlich aus, aber sie glaubte ohnehin, dass es nicht in ihrer Macht stünde, irgendetwas im Leben zu ändern.
    »Ich wüsste ja nicht mal, wie ich ihn finden soll«, murmelte sie und warf das Schreiben zusammen mit freundlich oder weniger freundlich formulierten Mahnungen in den Müll. »Ich weiß ja nur, dass er irgendwo an der Westküste ist.«
    Es folgten weitere Briefe der Einberufungsbehörde. Dann kam ein Anruf. Aufgrund einer niedrigen Nummer in der Wehrdienstlotterie musste er sich innerhalb von zwei Wochen bei der Behörde melden, sonst galt er als Wehrdienstverweigerer.
    »Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Val am Telefon. »Wenn ich wüsste, wo mein Sohn ist, würde ich selbst mit ihm reden.«
    Das war im Sommer 1970. Ich wohnte noch bei Val und jobbte als Kellnerin und abends zusätzlich in einem Labor, um das Geld fürs Studium zusammenzusparen. Der Vietnamkrieg eskalierte, es gab bereits vierzigtausend Tote, und Ray wurde jetzt als Gesetzesbrecher per Haftbefehl gesucht.
    Irgendwann im August rief er an. Vermutlich ahnte er, wie es um ihn bestellt war.
    »Ich bin auf

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