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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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ideal, um den Eltern klarzumachen, dass sie kein frommes, artiges Mädchen mehr sein wollte.
    Mit dem Bus kamen wir bis Albany im Bundesstaat New York. Trampen war an diesem Wochenende einfach, vor allem für zwei Mädchen ohne männliche Begleitung.
    Als wir Woodstock erreichten, bewegte sich schon eine endlose Autoschlange mit vielen VW -Bussen Richtung Festivalgelände. Ich hatte gerade mal zwei Minuten den Daumen rausgehalten, als wir von einer Horde Jungs mitgenommen wurden, die ein paar Jahre älter waren als wir. Ich dachte daran, was meine Mutter bei deren Anblick wohl gesagt hätte. Mein Vater hätte zweifellos bemerkt, sie bräuchten zweierlei: ein Bad und anständige Arbeit.
    »Deine beste Freundin?«, fragte mich der Fahrer und wies mit dem Kopf auf Winnie, als wir uns zu drei Jungs auf den Rücksitz quetschten.
    »Meine Schwester«, antwortete ich, während ich angestrengt versuchte, meine Beine unterzubringen – ein Problem, das ich grundsätzlich auf dem Rücksitz von VW -Käfern hatte, auch wenn sie weniger voll waren.
    »Ihr seht euch aber gar nicht ähnlich«, sagte der Typ. »Da solltet ihr mal mit eurer Mom drüber reden. Oder mit dem Milchmann.«
    »Bei uns gibt es keinen Milchmann«, bemerkte Winnie. »Wir sind auf der Farm aufgewachsen, wir haben selbst Kühe.« Meine Schwestern waren allesamt sehr ernsthaft und etwas einfältig und hatten nicht das kleinste bisschen Humor, aber Winnie hatte es am härtesten getroffen.
    »Ich nehm die Kleine«, sagte der Freund des Fahrers. »Die so witzig ist.«
    Dann ließen die Jungs einen Joint kreisen. Meine Schwester lehnte ab, aber ich nahm einen Zug.
    Mit dem Auto kam man lediglich bis auf ein paar Kilometer an das Festival heran – das auf einer Farm stattfinden sollte, wie uns die Jungs erzählt hatten. Ich stellte mir vor, wie mein Vater sagte: »Ihr wollt ein Musikfestival für ein paar Hunderttausend Hippies machen? Na klar, kommt doch vorbei.« Dieser Max Yasgur war offenbar eine andere Art von Farmer als mein Dad.
    Als wir ausstiegen, trennten wir uns von den Jungs. Es fing an zu regnen, und die hatten im Nu Mädchen gefunden, mit denen sich besser feiern ließ als mit uns. Ich hatte Clogs an den Füßen, Winnie gewöhnliche Slipper. Beide trugen wir Schlaghosen, aber wir sahen trotzdem nicht aus, als gehörten wir dazu.
    »Hätte ich mich bloß nicht von dir überreden lassen«, sagte Winnie.
    »Wenn es dir nicht passt, kannst du ja wieder heimfahren«, erwiderte ich, obwohl mir auch schon Zweifel kamen. Trotzdem gingen wir weiter.
    Schließlich fanden wir etwa achthundert Meter von der Bühne entfernt einen Platz zum Lagern, neben einer Familie mit Baby und einem Paar, das halbnackt wie in Trance tanzte.
    Inzwischen regnete es heftiger, und aus den Boxen dröhnten Anweisungen, was man tun sollte, wenn man einen schlechten Trip erwischt hatte, und wo man hingehen konnte, wenn die Wehen einsetzten. Jemand behauptete, Santana seien jetzt auf der Bühne, aber von unserem Lagerplatz aus konnten wir nichts sehen, weil so viele Leute aufstanden. Und wir hörten auch kaum Musik, sondern hauptsächlich das Brummen der Generatoren.
    »Ich muss aufs Klo«, sagte Winnie. »Ich glaub, ich krieg meine Tage.« Sie weinte.
    Als sie wegging, tappte ich durch den Schlamm zwischen den Decken der anderen. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen, aber sie waren vermutlich schon ruiniert.
    »Hey, Bohnenstange«, hörte ich jemanden rufen. Ich hielt nach dem Rufer Ausschau, entdeckte aber niemanden, den ich kannte.
    Ein Mädchen drückte mir eine kleine orangefarbene Pille in die Hand.
    »Probier mal«, sagte sie. Ich schluckte die Pille, und nach einer Weile begann alles um mich her eigenartig verzerrt auszusehen. Die Musik näherte sich mir in Wellen und war so schön, dass mir nach Weinen oder lautem Schreien zumute war. Evil Ways sang Carlos Santana auf der Bühne.
    »Ich liebe dich«, schrie jemand.
    »Ich liebe euch alle«, rief ein anderer.
    Ich war mittlerweile klatschnass und schlammverkrustet. Viele Leute hatten sich splitternackt ausgezogen, und nun sah ich tatsächlich zum ersten Mal einen echten nackten Männerkörper, nicht nur Abbildungen in Büchern oder Statuen in Museen. Die Leute beschmierten sich gegenseitig mit Schlamm und bemalten damit ihre Gesichter, und einige verrieben Schlamm auf den Bäuchen und Brüsten von Frauen, auch von Schwangeren.
    Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Heimweh und dachte an meine Eltern, vor allem an meinen Vater.

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