Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Ich stellte mir vor, wie er mit seinem Kaffee auf die Veranda trat, Oh What a Beautiful Morning pfiff, zum Stall ging und sich dann wunderte, weil ich nicht zum Melken erschienen war. Wie er dann ins Haus ging, um nach mir zu suchen, und den Zettel fand, den ich am Abend vorher auf mein Bett gelegt hatte. Wie er nach meiner Mutter rief.
»Die Mädchen sind verschwunden«, sagte er wahrscheinlich. »Winnie und Ruth.«
Vielleicht lag es an der orangefarbenen Pille; jedenfalls fing ich zu weinen an. Ich wusste nicht mehr, wie ich wieder zu der Stelle zurückfinden sollte, an der wir unsere Schlafsäcke abgelegt hatten. Ich schaute zum Himmel auf. Wegen des Regens konnte man die Tageszeit schlecht schätzen, aber vermutlich setzte meine Mutter gerade die Bohnen auf. Jetzt war Maisernte. Vielleicht würden unsere Eltern sich solche Sorgen um uns machen, dass sie an diesem Tag gar nichts essen konnten.
Ich setzte mich in den Schlamm. Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass ich Porträts zeichnen würde, und hatte sogar einen Skizzenblock und Farbstifte in meinen Rucksack gepackt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was mich hier erwartete.
Ich weinte vor mich hin, als ich plötzlich die Stimme hörte. »Ruth Plank. Ausgerechnet. Das gibt’s doch nicht.«
Jahrelang hatte ich sein schönes Gesicht in meinen nächtlichen Fantasien ebenso vor meinem inneren Auge gesehen wie am Tage, wenn ich auf der Farm arbeitete. Doch nun, als er vor mir stand, dauerte es einen Moment, bis ich ihn erkannte, denn er war so nass – bartlos im Gegensatz zu den meisten Männern hier, aber mit langen Haaren. Ray Dickerson.
»Du bist erwachsen geworden«, sagte er, nahm mich an den Händen und zog mich hoch. Wir waren fast gleich groß.
»Hast du Erdbeeren dabei?«, fragte er. Und küsste mich auf den Mund.
Ich will gar nicht versuchen, die Ereignisse der nächsten zwei Tage zu schildern. Oft genug habe ich Leuten zugehört, die von ihren LSD -Erlebnissen erzählt haben – die unwirklichen Farben und Geräusche, die Liebe, die sie nicht nur für ihre Mitmenschen, sondern auch für eine Ameise an ihrem Bein oder einen Grashalm empfanden. Häufiger, als mir lieb war, habe ich mir anhören müssen, wie wundersam sich diese Verwandlungen anfühlten, in denen man den Sinn des Lebens verstand und unfassbar guten Sex erlebte. Auch ich erlebte vieles davon in den beiden Tagen, die ich mit Ray Dickerson verbrachte – nur richtigen Sex hatten wir nicht. Angesichts dessen, was sich um uns herum abspielte und was wir selbst alles machten, war es eigentlich erstaunlich, dass es nicht dazu kam.
Vielleicht hatte es mit dem Regen und dem Matsch und den vielen anderen Menschen zu tun. Sogar auf Droge wie in Woodstock blieb Ray ein Romantiker, der in mancherlei Hinsicht altmodisch war – und das galt auch für mich.
»Ich will mit dir alleine sein«, sagte er. »Ich will dich auf Moos betten und dich mit Ölen einreiben.«
Mit solchen Vorstellungen war ich bislang in meinem Leben nicht in Berührung gekommen, aber eigenartigerweise hatte ich auch solche Fantasien. Ray Dickerson war für mich wie eine männliche Version meiner selbst. Als schaue ich in einen Spiegel und sähe mich selbst als Mann. Und ich fand diesen Mann wunderbar.
Die Droge verlieh mir neue Fähigkeiten der Wahrnehmung. Alles war viel intensiver und deutlicher. In jenen zwei Tagen entdeckte ich Farben, die nicht einmal im Regenbogen vorkamen, und Geräusche, die von außerirdischen Instrumenten erzeugt zu sein schienen, auf bisher unhörbaren Frequenzen. Meine Haut schien vor Empfindsamkeit zu vibrieren. Ich hatte Zugang zum Hirn der Menschen in meiner Nähe. Ich wusste, was sie sahen und fühlten. Und vor allem hielt ich mich im Kopf von Ray auf.
Irgendwann im Verlauf dieser zwei Tage dachte ich an meine Schwester und fragte mich kurz, was wohl aus ihr geworden war, aber ich hatte keinerlei Schuldgefühle. Die schien es nicht mehr zu geben, wenn man LSD nahm, und außerdem hatte ich ohnehin das Gefühl, dass Winnie auf dieser Reise etwas suchte, was sie nicht in Anwesenheit ihrer kleinen Schwester finden konnte. Vielleicht tanzte sie auch irgendwo nackt mit einem Mann, was ich allerdings bezweifelte. Und ich hatte tatsächlich recht. Kurz nachdem Winnie an diesem ersten Tag zu den Klos aufgebrochen war, hatte sie eine Familie kennengelernt, deren kleine Tochter in der Menschenmasse durchdrehte, und war mit diesen Leuten bis Buffalo gefahren. Von dort aus hatte sie
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