Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
verbrachte ich im Museum of Fine Arts, wo ich die Akte von Michelangelo, Raphael und Botticelli kopierte. Im Frühjahr gewann ich mit einem Porträt von meiner Zimmergenossin, einem Mädchen aus Texas, das sich auf große abstrakte Gemälde spezialisiert hatte, den Preis für die beste Studentenzeichnung des Semesters.
Als das meiner Mutter – die sich immer über die Kosten meines Studiums den Kopf zerbrach – zu Ohren kam, wollte sie wissen, ob dieser Preis auch mit einer Geldprämie verbunden sei. Mein Vater reiste an, um sich die Ausstellung anzuschauen, und danach führte er mich im North End in ein Restaurant aus, das ihm vom einzigen ihm bekannten Italiener empfohlen worden war: seiner langjährigen Hilfskraft, Victor Patucci. Der war inzwischen verheiratet, würde demnächst Nachwuchs bekommen und hatte offenbar seine Pläne zur Übernahme der Plank-Farm aufgegeben.
»Diese Leute, die euch Modell sitzen«, sagte mein Vater. »Macht es denen nichts, dass sie sich nackt ausziehen und sich von allen anschauen lassen müssen?«
»Da geht es um die Kunst, Dad«, erwiderte ich. »Die Leute werden dafür bezahlt. Niemand denkt sich was dabei.«
»Die Zeiten haben sich wirklich geändert«, sagte er und schnitt seine Spaghetti klein, wie er es auch zuhause tat. »Als ich noch jünger war, wurde wegen dem Thema so ein Theater gemacht, dass man ganz verrückt wurde im Kopf. Wenn man hätte darüber sprechen können und nicht alle behauptet hätten, wunder was für eine Sünde es sei, dann hätte es das ganze Durcheinander vielleicht nicht gegeben.«
Ich überlegte, was er damit meinte, fragte aber nicht nach.
Es gab tatsächlich Geld für diesen Preis, aber nur hundert Dollar. Und meine Mutter lag nicht ganz falsch mit ihrer Sorge wegen der Finanzierung meines Studiums, denn sogar mit meinem Stipendium gelang es mir kaum, für Studiengebühren und Material aufzukommen.
Ich entdeckte eine Kleinanzeige in der Zeitung: »Künstler mit Talent für Akte gesucht. Bezahlung zunächst niedrig, aber Aussicht auf künftiges höheres Einkommen.«
Ich rief an und bekam einen Termin für ein Kontaktgespräch in Jamaica Plain, was fast am Ende der U-Bahnlinie lag. Meine Zimmergenossin Tammy machte sich Sorgen, dass der Typ vielleicht ein Perverser oder Zuhälter oder Mädchenhändler sein könne, aber mich ließ das kalt. Wenn eine Frau so groß wie ich ist, kommen Männer nicht so schnell auf dumme Gedanken.
Und wie sich herausstellte, war der Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte, alles andere als zwielichtig. Josh war klein und dünn und hatte schon schüttere Haare, obwohl er kaum älter war als ich. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern, und den Büchern in seinem Regal nach zu schließen, hatte er eine Schwäche für die Dichter der Beat Generation und für asiatische Philosophie. Noch bevor er die Wohnungstür öffnete, hörte ich, dass drinnen Marvin Gaye lief. Die meisten Leute an der Akademie hörten Musik von Leuten wie Bob Dylan, Neil Young, Joni Mitchell oder Linda Ronstadt, aber Josh Cohen stand ausschließlich auf Soul.
Auf seinem Couchtisch lag neben einer Bong das Buch Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten.
»Weißt du, wie oft sich dieses Buch verkauft hat?«, sagte Josh. »Millionenmal. Der Autor hat fürs Leben ausgesorgt. Und das beweist, dass es auch für weitere Bücher dieser Art eine Leserschaft gibt.«
»Aber die Leute haben sich doch schon das hier angeschafft«, wandte ich ein.
»Hat deine Mutter nur ein Kochbuch?«, erwiderte Josh. »Oder liest sie ihr Leben lang nur eine einzige Geschichte?«
In diesem Ambiente an meine Mutter erinnert zu werden war bizarr. Sie besaß zwar mehrere Kochbücher – die meisten waren von Frauen aus dem Kirchenkreis für Wohltätigkeitsbasare zusammengestellt worden –, hatte aber tatsächlich ihr Leben lang nur eine Geschichte gelesen. Weil sie glaubte, dass die von Gott verfasst worden war. Dennoch verstand ich, was Josh mir sagen wollte.
»Ich suche jemanden, der mir ein Sexhandbuch illustrieren kann«, erklärte Josh. »Vorerst habe ich nur ein begrenztes Budget, aber wenn mir deine Arbeit gefällt, beteilige ich dich an den Einnahmen.«
Joshs Vater arbeitete in New York im Textilhandel, und Josh verstand sich so intuitiv auf den Verkauf von Produkten wie mein Vater auf den Anbau von Mais. Das Talent für den Handel war Josh sozusagen in die Wiege gelegt worden.
Ich nahm den Job an, und zum ersten Mal in
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