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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Fahrt auf einer Fähre zur Insel Quadra – sprachen wir nicht viel.
    Rays Hand lag die ganze Zeit auf meinem Bein. Ich spürte die Wärme an der Innenseite meines Oberschenkels.
    Ich fragte ihn nicht, was er in der Zwischenzeit gemacht hatte oder wie es ihm hier ging. Und erst recht erkundigte ich mich nicht nach seinen Plänen für die Zukunft und ob ich darin vorkam. Manchmal schaute er mich stumm an. Doch meist starrte er nur geradeaus, zum Horizont, wo die Berge vor dem Himmel aufragten.
    Die Fahrt mit der zweiten Fähre dauerte nur zehn Minuten. Nachdem sie angelegt hatte, startete Ray den Motor, und wir fuhren aufs Dock und durch den Ort, der nur aus ein paar Häusern, einem Postamt und einem Lebensmittelladen bestand.
    Nach einer zwanzigminütigen Fahrt auf einer unbefestigten Straße, während der wir keinem anderen Auto begegneten, verkündete Ray: »Wir sind da.«
    Kein anderes Haus weit und breit. Keine Strommasten. Und, wie ich später erfuhr, auch kein fließend Wasser.
    An diesem Abend, im Lichtschein einer Petroleumlampe, zog Ray mich aus. Was dann geschah, hatte nichts mit den Zeichnungen zu tun, die ich für das Buch angefertigt hatte. Zum ersten Mal blieb das Auge geschlossen, das mein Leben stets zu beobachten schien – und ich war einfach nur Ruth, eine Frau in ihrem Körper, die den Körper eines Mannes erkundet.
    Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem Bett blieben. Bis zum Morgen und noch viel länger. Zwischendurch schliefen wir für eine Weile. Wenn wir erwachten, berührten wir uns, und alles begann aufs Neue. Ich verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum.
    Es war Spätherbst, als ich zu Ray auf die Insel kam, und ein paar Wochen später fiel der erste Schnee. Eine Eisschicht bildete sich auf der Quelle, aus der wir unser Wasser holten, und Ray zerschlug sie mit einer Axt. Auch wenn den ganzen Tag im Kamin ein Feuer brannte, war es in dem Haus mit den zwei Zimmern – das einfache Glasfenster hatte und nicht isoliert war – so kalt, dass ich manchmal morgens beim Aufwachen meinen Atem sah oder Raureif auf unseren Decken glitzerte.
    Das war mir alles vollkommen egal. Dass die Quelle fast hundert Meter vom Haus entfernt war. Dass wir kaum Geld hatten und uns von Reis, Bohnen und Erdnussbutter ernährten. Im Sommer hatte Ray auf Baustellen gearbeitet, aber im Winter gab es auf der Insel für einen ungelernten Schreiner nichts zu tun.
    Ich hängte einen Zettel im Gemischtwarenladen aus, auf dem ich Zeichenstunden anbot, aber niemand meldete sich. Offenbar waren wir nicht die einzigen Menschen mit begrenztem Budget auf der Insel.
    Doch in anderer Hinsicht waren wir reich. Manchmal sahen wir Adler oder Hirsche vor dem Fenster. Wir machten lange Spaziergänge. Ray wusch mir das Haar und rieb es trocken. Er holte Wasser aus der Quelle, erhitzte es auf dem Holzofen, füllte damit eine alte gusseiserne Wanne, zündete Kerzen an und badete mich.
    Manchmal begann er irgendein Bauprojekt – eine Sauna mit Holzofen, den er aus einer alten Öltonne anfertigte, oder ein Atelier für mich. Er machte einen Entwurf, und wir hobelten ein paar Tage Bretter oder brachten Rigipsplatten an. Aber Rays Projekte wurden selten vollendet. Sobald ein Problem auftauchte, gab er auf.
    »Ich brauche ohnehin kein Atelier«, sagte ich. »Ich liege gerne hier und zeichne dich.« Das stimmte auch. Wenn er sich nackt auf dem Bett ausstreckte, fühlte ich mich an Jesus am Kreuz erinnert. Diese langen Arme und sehnigen Beine, und auf seinem Gesicht sah ich Schmerz und Verzückung zugleich.
    Wir brachten viele Stunden im Bett zu. Ray hatte eine dunkle, träge Stimme, und er las mir gerne vor – Der Herr der Ringe , Die Chroniken von Narnia , Der Wüstenplanet . Auch Gedichte von Yeats und Browning, von Emily Dickinson, Edna St. Vincent Millay, William Blake. Bei manchen Zeilen war er so gerührt, dass er zu weinen begann.
    Er war auch damals schon ein sehr verletzlicher Mann. Doch zu jener Zeit machte ihn das für mich nur umso begehrenswerter. Mein Vater war so stoisch, dass man seine Gefühle selten erahnen konnte, aber Rays Gefühle spiegelten sich immer auf seinem Gesicht. War er glücklich, konnte er plötzlich einen wilden Derwischtanz aufführen. Wenn er traurig war – und das kam erstaunlich oft vor –, weinte er ungehemmt. Viele Jahre später erfuhr ich, dass es für dieses Verhalten einen Namen gibt, aber damals hielt ich es einfach für Aufrichtigkeit.
    Einmal stritten wir uns. Ich hatte Ray vorgeworfen, dass

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