Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
ausnahmsweise zu zweit – blieb ich in Boston. Ich arbeitete für eine Designfirma, widmete mich aber meiner Malerei abends und am Wochenende. Manches vermisste ich, seit ich nicht mehr auf der Farm lebte – den Geruch der Scheune, den Geschmack von Erbsen frisch vom Strauch, die Sterne am Nachthimmel, so klar, wie man sie nur sehen kann, wenn es rundum keine anderen Lichtquellen gibt.
Aber ich war froh darüber, dass die Gefühle, die mich mein ganzes Leben gequält hatten – der eisige Hauch der Enttäuschung meiner Mutter, die Verbundenheit meiner Schwestern, die mich aber ausschloss –, weniger schmerzten als früher. Mein Vater war der einzige Mensch in meiner Familie, mit dem ich eine tiefe Verbundenheit empfand, doch sogar seine Zuwendung und Fürsorge waren mir manchmal wie ein zu offensichtlicher Versuch erschienen, die mangelnde Liebe der anderen auszugleichen.
»Gibt es denn jemanden für dich in der großen Stadt?«, fragte er mich im Mai, als ich über ein Wochenende zuhause war, um beim Tomatensetzen zu helfen. Für meinen Vater, der sich mit mir normalerweise nur über neue Maissorten, die Unterschiede im Fettgehalt der Milch von Guernsey-Kühen im Vergleich mit Holsteinern oder seine Versuche, eine neue besonders süße Sorte von Früherdbeeren zu züchten, unterhielt, war das eine ungewöhnlich intime Frage.
»Ich treffe mich manchmal mit jemandem«, antwortete ich, um das Thema damit zu beenden.
Tatsächlich waren meine wenigen Verabredungen mit Männern in diesen Jahren durchweg unangenehme Erlebnisse gewesen. Ob ich nun mit einem Mann ins Kino, ins Restaurant oder auf ein Bier zum Harvard Square gegangen war – ich hatte jeweils die Minuten gezählt, bis ich wieder meine Ruhe hatte.
Das lag nicht an den Männern. Ich fand sie nur nicht interessant und sah deshalb keinen Sinn in der ganzen Aktion. Wenn sie mich küssten, spürte ich ihre Lippen auf meinen, spürte, wie ihre Hände meinen Rücken oder meine Brust streichelten, doch ich erlebte das Ganze so distanziert, als würde ich es zeichnen. Nichts regte sich in mir.
Ich war eine vierundzwanzigjährige Jungfrau. Der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprach, war sonderbarerweise Josh Cohen. Wir trafen uns nicht regelmäßig, waren aber in den Jahren nach der gemeinsamen Arbeit an Sexual X-tasy Freunde geworden .
Josh führte ein wildes Leben. Er erzählte mir von Orgien, an denen er teilgenommen hatte, und von Wochenenden in abgelegenen Orten in Vermont, Maine oder Upstate New York, bei denen alle nackt herumliefen und die Partner wechselten – das fand zu einer Zeit statt, als man sich über die gesundheitlichen Folgen solchen Verhaltens noch keine Sorgen machen musste.
Meine Wünsche und Sehnsüchte kamen lediglich in meinem Notizbuch zum Ausdruck. Und auch dort zeigte ich keinerlei Interesse an solchen Aktivitäten, die Josh »Spiele« nannte. Er fand es toll, wenn sich junge Frauen in Badewannen tummelten und sportliche junge Geschäftsmänner aus Boston sich mit allen vergnügten. Wichtig war dabei wohl vor allem, emotionale Bindungen zu vermeiden.
»Niemand, der deine Zeichnungen kennt, würde glauben, dass du wie eine Nonne lebst«, sagte er eines Abends zu mir. Wir hatten uns in einem kubanischen Restaurant in der Nähe meiner Wohnung zum Essen getroffen. »Du denkst dir diese wilden Sachen bei anderen Leuten aus, machst sie aber nie selbst.«
»Ich habe bislang niemanden kennengelernt, mit dem ich sie gerne ausprobieren würde«, erwiderte ich.
Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Über all die Jahre hatte ich mir das Bild eines Mannes im Gedächtnis bewahrt, mit dem ich mir Sex so mühelos wie das Atmen vorstellte: Ray Dickerson.
Deshalb lebte ich weiterhin ohne Partner in Cambridge, und meine sexuellen Erlebnisse beschränkten sich aufs Malen und Zeichnen. Ich beschäftigte mich nicht ausschließlich mit erotischen Motiven in meiner Kunst – doch wenn ich solche Szenen schuf, dann bildete ich sie nicht nur ab, sondern ich erlebte sie. Manchmal malte ich die ganze Nacht lang, und wenn ich mich dann schlafen legte, war ich schweißgebadet. Diese Bilder bekam niemand außer mir zu Gesicht. Sie waren zu intim.
Im Herbst 1974, als es den ersten Frost gab, hatte ich eine Verabredung mit einem sympathischen Mann namens Jim, der mich ins Kino ausführte.
Jim war ein durch und durch guter Kerl, der mich sehr zu mögen schien – was ich in Anbetracht meiner mangelnden Leidenschaft rätselhaft fand. Ich begehrte ihn
Weitere Kostenlose Bücher