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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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er sich nicht bei einem Mann gemeldet hatte, der an dieser Straße wohnte und Ray um Hilfe bei Dacharbeiten gebeten hatte. Das hätte nicht viel Geld eingebracht, aber wenigstens etwas. Doch Ray hatte so lange herumgetrödelt, dass der Mann sich schließlich jemand anderen gesucht hatte.
    »Ich hab dich enttäuscht«, weinte Ray. »Ich bin ein Idiot.«
    »In allen wichtigen Dingen hast du mich nie enttäuscht«, sagte ich zu ihm. »So wie du mich liebst.« An seiner Liebe zweifelte ich tatsächlich nie. Während ich sprach, strich ich mit beiden Händen durch sein langes zerzaustes Haar – es war so blond wie meines, aber ich hatte glatte Haare und er eine Lockenflut, in der ich gerne mein Gesicht vergrub.
    »Ich liebe deine Haare«, sagte ich. Dann küssten wir uns und sprachen nicht mehr.
    Wir rauchten viel Marihuana. Ray hätte kein Geld gehabt, um welches zu kaufen, aber im Sommer hatte er einen kleinen Hain angelegt, und im Gegensatz zu seinen anderen Pflanzenexperimenten hatte es hier eine ergiebige Ernte gegeben. Ich hatte bisher nur ein paar Mal Marihuana geraucht – darunter in Woodstock – und wollte auch nicht den Tag mit einem Joint beginnen wie Ray. Aber ich war gerne stoned, wenn wir uns liebten – und das taten wir ständig.
    Ich fragte Ray, ob er es merkwürdig fand, dass ich vor ihm mit keinem anderen Mann Sex gehabt hatte. Er dachte lange darüber nach.
    »Es entspricht deinem Wesen«, antwortete er schließlich. »Du bist ein Mensch, der immer aufrichtig sein muss, und du musstest warten, bis du deine einzige große Liebe auf Erden gefunden hast.«
    Und die war er wirklich. Und ich wusste, dass ich es auch für ihn war – obwohl es bei Ray keinen Mangel an anderen Erfahrungen gab. Doch die Richtige sei eben nicht dabei gewesen, sagte er.
    Nach all diesen Jahren fällt es mir noch immer schwer, das auszusprechen – aber damals war ich der Überzeugung, dass ich mit Ray Dickerson den Rest meines Lebens verbringen würde. Ich hielt nichts zurück, denn ich glaubte, dass wir für immer und ewig zusammen sein würden.
    Er sagte mir, er wünsche sich eine Beziehung, in der wir beide wie ein und dieselbe Person seien. Heute haftet dieser Bemerkung für mich etwas Bedrohliches an, aber damals erschien es mir wie das wunderbarste Ziel, das zwei Liebende haben können. Keine Grenzen. Nichts, was unausgesprochen bleibt. Kein Zentimeter unserer Körper, den wir nicht kannten.
    Als endlich der Frühling kam und es warm wurde, brachten wir die Tage meist nackt zu, was wir uns erlauben konnten, weil die nächsten Nachbarn fast zwei Kilometer entfernt wohnten. Wir gingen häufig schwimmen in einem nahegelegenen See, an dem sich sonst niemand aufhielt. Ich wusste schon lange – und hatte es vermutlich immer gespürt –, dass Ray einen Hang zur Melancholie hatte und so empfindsam war, dass er manchmal der gewöhnlichen Welt kaum gewachsen zu sein schien. Als wir einmal an einem überfahrenen Reh vorbeikamen, das am Straßenrand lag, war Ray derart am Boden zerstört, dass er umkehrte und den Wagen holte, um das tote Tier wegzubringen und zu begraben. Und als ich einmal in den Ort fuhr und mich dort länger als sonst aufhielt, saß Ray bei meiner Rückkehr auf der Treppe vor dem Haus und raufte sich seine wunderschönen langen Haare.
    »Ich dachte, du hättest mich verlassen«, sagte er. »Das hätte ich nicht ertragen.«
    Er brachte mir Geschenke: eine kleine Katze von einem Mädchen, das mit einer Kiste vor dem Lebensmittelladen gesessen und einen ganzen Wurf verschenkt hatte. Eine Flasche grüne Zeichentinte mit einem Pinsel, den er aus eigenen Haaren und einem Knochenstück angefertigt hatte. Eine Spieldose und hauchzarte Seidenpantoffeln, von denen ich fürchtete, dass er sie bei einer reichen Frau gestohlen hatte, für die er kurzzeitig tätig gewesen war. Eine Samttasche, angefüllt mit Muscheln, die er für mich gesammelt hatte und die er dann auf meinem Bauch auslegte. Eines Tages brachte er frische Austern vom Strand nach Hause, aber als es ihm nach einer Stunde nicht gelungen war, sie zu öffnen, übergab er sie alle wieder dem Ozean.
    »Sie sollen nicht sinnlos sterben«, sagte er.
    Er schlug vor, dass wir unsere eigene Sprache erfinden sollten, die nur wir verstehen könnten – obwohl niemand in der Nähe war, der uns belauschen konnte.
    »Die Regierung ist mir inzwischen bestimmt auf der Spur«, sagte er. »Und dir auch, weil du mit mir zusammen bist.«
    Mit meinem Wissen von heute fällt es

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