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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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nicht und machte auch keinen Hehl daraus.
    An diesem Abend begleitete mich Jim zu meiner Wohnung. Ich weiß noch, dass ich beim Anblick der welken Blätter auf dem Gehweg wehmütig an den Ahorn vor dem Farmhaus dachte – im Herbst hatte mein Vater immer einen riesigen Laubhaufen zusammengeharkt, damit wir Kinder hineinspringen konnten. Jim erzählte mir etwas über das Versicherungswesen – seine Arbeit – und dass wenige Menschen es richtig verstehen konnten. Ich versuchte zuzuhören, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab.
    Wir waren an meinem Haus angekommen. »Ich würde dich gerne wiedersehen«, sagte Jim und trat auf mich zu. Ich ahnte, dass er mich küssen wollte.
    »Kann ich noch mit hochkommen?«, fragte er. »Wir könnten vielleicht Musik hören.«
    »Ich arbeite morgen«, sagte ich. »Muss früh aufstehen.«
    Dann küsste ich ihn – oder zumindest berührten sich unsere Lippen. Doch ich empfand nichts dabei.
    Über dieses Rätsel habe ich mir viele Jahre lang Gedanken gemacht – weshalb bei Berührungen bestimmter Menschen die Haut zu lodern beginnt, während bei anderen (die vielleicht einen viel besseren Charakter haben und einem aufrichtige Liebe schenken wollen) rein gar nichts geschieht. Und wenn das so ist, sind alle anderen Qualitäten null und nichtig. Wenn das Herz kalt bleibt, ist der Verstand machtlos.
    Ich hatte all diese Paare beim Liebesakt gezeichnet, und Josh hatte unser Buch so oft verkauft, dass er irgendwann ein reicher Mann mit einem eigenen Verlag war, der mit seinem Porsche – in dem sich ehemalige Playboy-Bunnies auf dem Rücksitz tummelten – zum Esalen-Institut fuhr (er lebte später in L.A.). Irgendwo da draußen waren hunderttausend Leute, die sich meine Zeichnungen angesehen, zumindest aber das Buch gekauft hatten.
    Doch letztlich kann kein Buch die Liebe erklären, und so traurig es ist: Auch grenzenlose Liebe kann bei einem anderen Menschen kein Begehren wecken, wenn es nicht da ist. Entweder eine Berührung löst etwas aus oder nicht. Man kann das niemandem beibringen. Das wurde mir an jenem Abend bewusst, als ich mich von Jim verabschiedete und nicht damit rechnete, ihn jemals wiederzusehen.
    Stunden später klingelte das Telefon, aber ich war mitten in einem Traum und wollte nicht abnehmen. Das Klingeln hörte kurz auf und begann dann von Neuem.
    Wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelt, muss man davon ausgehen, dass jemandem etwas zugestoßen ist. Deshalb rappelte ich mich schließlich auf und nahm ab.
    »Ruth.« Mehr brauchte ich nicht zu hören, um die Stimme wiederzuerkennen. Ray. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er in Woodstock in diesen Wagen gestiegen war, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen.
    »Wo bist du?«, fragte ich. Dana war ich in diesen Jahren ein- oder zweimal begegnet, weil sie an unserem Verkaufsstand aufgetaucht war. Ich hatte mich bemüht, mir mein Interesse an ihrem Bruder nicht anmerken zu lassen, hatte aber so beiläufig wie möglich gefragt, was er denn machte. So hatte ich von Kanada erfahren. Dem Einzugsbefehl. Rays Stillschweigen. Und nun war er am Telefon.
    »Ich lebe auf einer Insel in British Columbia«, antwortete er. »Arbeite als Schreiner. Hier sind noch ein paar andere, die auch hergekommen sind, als die Armee uns holen wollte. Aber ich bin am liebsten alleine.«
    Ich weiß noch genau, wie ich mich fühlte, als ich in dieser Nacht mit dem Telefonhörer in der Hand in meiner kleinen Wohnung stand. Wie unter Strom. Wie ein brechender Staudamm, ein Wasserfall, der über Felsen tost.
    »Ich habe immer gehofft, dass du anrufen würdest«, sagte ich.
    »Ich dachte, du könntest herkommen«, sagte er. »Wäre schön, dich zu sehen.«
    Mir war eigentlich bewusst, dass im Umgang mit Ray Vorsicht angeraten war. Aber ich empfand nichts außer Sehnsucht und Verlangen. Ray war der einzige Mann, der jemals zu mir durchgedrungen war, der mein Innerstes berührt hatte. Er hatte mich auch leichthin verlassen. Doch er war zurückgekehrt.
    An diesem Tag gab ich meinen Job und meine Wohnung auf und warf die meisten meiner Gemälde weg, an denen ich gearbeitet hatte; nur ein paar brachte ich in einem Lager unter. Meinen Eltern sagte ich lediglich, dass ich einen Freund in Kanada besuchen wolle. Vier Tage später saß ich im Flugzeug.
    Er holte mich in Vancouver am Flughafen ab. Während der langen Fahrt nach Norden – eine Stunde bis Nanaimo, eine Stunde auf der Fähre, drei weitere Stunden zum Campbell River und eine weitere

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