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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Messingbett schon oft geliebt und zahllose wunderbare Stunden erlebt, aber eine Nacht wie diese hatte es noch nie gegeben.
    Clarice saß auf dem Bett, und ich entkleidete sie – was ich so oft getan hatte. Doch als ich an diesem Abend ihre Bluse aufknöpfte und sie von ihren Schultern gleiten ließ, ihren zarten Spitzen- BH öffnete, hatte jede Geste eine andere Bedeutung als sonst. Ich spürte, dass Clarice dachte: Eines Tages wird sie mich ausziehen müssen, weil ich es alleine nicht mehr kann.
    Ich ging vor ihr auf die Knie, legte die Hände unter ihren kleinen festen Po. Öffnete ihren Rock, und sie hob die Hüften, damit ich ihn abstreifen konnte. Dann schaute ich zu ihr auf, rollte ihre Strumpfhose über ihre Schenkel, ihre Knie – sie mochte ihre knochigen Knie nicht, aber ich fand sie wunderschön – und schälte ihr den Stoff vom Körper, als wäre sie eine seltene exotische Frucht, die zuerst von Blättern, Hülsen und Schale befreit werden musste, bevor man ihren Saft aussaugen konnte.
    Doch zuerst massierte ich ihre Füße – in denen sich die schreckliche Taubheit zuerst bemerkbar gemacht hatte. Lutschte an ihren Zehen. Ich hatte mich immer über ihre Liebe zu Nagellack lustig gemacht – auf ihrer Kommode standen zig Fläschchen, umgeben von Kämmen, Haarspangen, Ringen, Anstecknadeln, Bändern, Federn –, all jenen Dingen, die mir nie etwas bedeutet hatten. Ich schenkte Clarice gerne Schmuck, obwohl ich selbst nur eine Uhr trug. Deren Ticken ich nun als bedrohlich empfand.
    Alles an meiner Liebsten erschien mir jetzt unendlich kostbar: ihre Knöchel, die kleine Narbe, die von einem Sturz vom Fahrrad in ihrer Kindheit herrührte, ihre Kniekehle. Wenn ich diese Stelle mit der Zunge berührte, kicherte Clarice, wurde wieder das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war.
    Ich selbst trug noch Hose und Pullover, meine Stadtkleidung. Als ich Clarice sanft aufs Bett drückte, sank sie so leicht nach hinten, als wolle sie ihre schwindende Kraft schon vorwegnehmen. Es kam mir vor, als verwandle sie sich in eine andere Person – früher hatte sie mich gestreichelt und geküsst, geleckt und gebissen, gekratzt und geknetet und mit mir gerungen.
    »Komm zurück zu mir«, flüsterte ich.
    »Ich war nie weg«, antwortete sie. »Ich bin immer da.«
    Zentimeter um Zentimeter liebkoste ich ihren Körper und verharrte an Stellen, die uns von anderen Nächten in Erinnerung geblieben waren.
    »Weißt du noch?«
    »Nova Scotia.«
    »Acadia National Park. Als wir im Regen gezeltet haben.«
    »Der Abend, an dem wir die Motoregge gekauft hatten.«
    »New York. Die Monet-Ausstellung. Danach im Hotel.«
    Ich hatte mich nun auch ausgezogen, um ihre Haut zu spüren. Von all jenen kleinen Schätzen, die wir als Selbstverständlichkeit erlebt hatten, würden wir uns verabschieden müssen. Wir zählten die Orte auf, die wir liebten: Finger, Ellbogen, Ohren, Hals, Bauch. Wir zählten sie auf wie ein Tourist die großen Museen von Paris aufzählen mochte oder die Felsformationen im Yosemite-Nationalpark.
    Wir sprachen nicht und brauchten auch keine Worte, und das war ein kleiner Trost. Auch wenn es keine Worte mehr für dich gibt, wollte ich ihr vermitteln, werde ich deine Stimme hören. Wenn du nicht mehr sprichst, werde ich es auch nicht mehr tun. (Doch wie sich dann zeigte, geschah das Gegenteil: Als es so weit war, brauchte sie meine Worte. Und ich sprach nicht nur für mich, sondern auch für sie.)
    Ich küsste all jene Stellen an ihrem Körper, die Männer bei Frauen vielleicht übersehen. Nicht nur ihre Nippel und Brüste, sondern die Kuhlen darunter. Die kleine Senke über ihrem Schlüsselbein, in der sich Wasser sammeln konnte. Einmal war die Wissenschaftlerin in mir durchgeschlagen, und ich hatte ausgerechnet, wie viel Flüssigkeit dort Platz fand. Bei Clarice mit ihren feinen Knochen war es beinahe die Verschlusskappe einer Flasche. Ich konnte etwas hineingießen und es austrinken.
    Ich küsste ihre Ohrläppchen, ihre Stirn, die Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger und alle anderen Stellen zwischen ihren Fingern. Ihr Steißbein und jeden Wirbel ihres Rückgrats. Ellbogen, Handgelenk, Nabel, Achsel.
    »Nimm bitte kein Deo«, hatte sie immer gesagt, auch wenn ich nach einem langen Arbeitstag in der Sonne verschwitzt ins Haus kam. »Ich will deinen wahren Duft auf meiner Haut.«
    Nun sog ich ihren Duft in mich auf.
    Erst nachdem ich all diesen Orten die Ehre erwiesen hatte, suchte ich den auf, an dem ich zuletzt

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