Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
immer landete. Den dunklen versteckten Ort in ihr, an dem der Schatz verborgen lag. Dort verweilte ich am längsten. Von fern hörte ich ihre Stimme – erst ein leises Schnurren, dann Laute wie von neugeborenen Tieren, die nach der Milch ihrer Mutter dürsten. Schließlich ein dunkles Stöhnen.
Stunden waren vergangen seit jenem schrecklichen Moment im Sprechzimmer des Arztes, und wir hatten noch keine Tränen vergossen. Doch nun konnten wir beide weinen, und unsere Stimmen erfüllten das Haus. Die Töne, die aus meinem Mund drangen, hatte ich noch nie zuvor gehört, und ich wollte sie auch nie wieder hören.
Es war das hemmungslose Klagen eines Tieres – zwei Stimmen in einem Schrei, der die Nacht zerriss und lange anhielt.
Danach schliefen wir ein.
Ruth
Eine komische Geschichte
D ass Val Dickerson gestorben war, erfuhren wir durch eine Nachricht für meinen Vater auf seinem Anrufbeantworter. Mein Vater lebte noch auf der Farm, war aber seit einigen Jahren so zerstreut, dass immer jemand auf ihn aufpassen musste und wir zusätzlich eine Betreuerin eingestellt hatten. Man wusste nie, was er anstellte, wenn man ihn alleine ließ. Er konnte beispielsweise mitten im Winter in die Scheune gehen und den Traktor anlassen. Oder er wanderte zum Gewächshaus, weil er der Meinung war, er müsste jetzt die Frühtomaten setzen. An einem Novembertag hatte ich ihn einmal auf dem Maisfeld gefunden.
»Ich versteh nicht, was hier passiert ist«, sagte er. »Die Silver-Queen-Stauden sind weg. Zwanzig Reihen gab es hier. Jemand bestiehlt uns.«
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er natürlich längst nicht mehr auf der Farm. Sie war mit Hypotheken belastet und gehörte ihm nur noch auf dem Papier, aber seit einigen Jahren verpachteten wir das Land an Victor Patucci.
An dem Nachmittag, an dem die Nachricht von Vals Tod kam, sah mein Vater fern. Er hatte eine erstaunliche Vorliebe für Oprah Winfrey entwickelt.
»Das Mädel mag ja Negerin sein«, sagte er, »aber die weiß, wovon sie redet.«
Ich packte gerade den Einkauf aus, als ich erstaunt feststellte, dass der Anrufbeantworter blinkte. Es gab nur noch selten Anrufe auf der Farm. Seit dem Tod meiner Mutter ging mein Vater nicht mehr zur Kirche. Die wenigen Freunde von ihm, die noch lebten, waren so alt wie er und verbrachten die Winter in Florida, wenn sie es sich leisten konnten.
Die Stimme auf dem Anrufbeantworter war mir fremd. Der Mann stellte sich als David Jenkins vor, Ehemann unserer alten Freundin Valerie Dickerson. Er rief aus Rhode Island an.
»Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Valerie am letzten Wochenende ganz überraschend verstorben ist. Sie war nicht krank. Ich habe sie in ihrem Atelier gefunden. Sie hat offenbar gemalt, als es passiert ist.«
Meine Hände zitterten – nicht so sehr wegen Vals Tod, sondern weil die Erwähnung ihres Namens Erinnerungen an Ray wachrief. Ich sah sein langes Haar über mich fallen. Hatte den Geschmack von Erdbeeren auf der Zunge.
Zu diesem Zeitpunkt war ich unerwartet schwanger mit unserem Sohn, Douglas – ganze zehn Jahre, nachdem Jim und ich Elizabeth adoptiert hatten. Doch sogar in diesem Zustand – anderthalb Wochen vor meinem Entbindungstermin, mit schmerzendem Rücken, geschwollenen Knöcheln und fleckiger Haut – wurde mir heiß beim Gedanken an Ray Dickerson.
Jim und ich waren seit siebzehn Jahren verheiratet. Als Douglas gezeugt wurde, hatten wir seit fast einem Jahr keinen Sex mehr gehabt, und ich benutzte keine Verhütungsmittel, da ich früher auch nie schwanger geworden war.
Und nun war ich mit zweiundvierzig Jahren zum ersten Mal in meinem Leben schwanger. In Wirklichkeit zum zweiten Mal, doch darüber sprach ich mit niemandem.
Nachdem ich die Nachricht von Vals Tod abgehört hatte, versank ich so in meinen Erinnerungen, dass ich nicht auf meinen Vater achtete, der ein paar Schritte neben mir vor dem Fernseher saß. Dann nahm ich ein leises Geräusch wahr, das mich an Tierlaute erinnerte.
Ich schaute zu meinem Vater hinüber, der zusammengesunken in seinem Sessel hockte, eine Decke auf den knochigen Knien, die meine Mutter vor vielen Jahren gehäkelt hatte. Und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater weinen. Auch beim Tod meiner Mutter hatte ich das nicht erlebt.
So gut es mir in meinem Zustand möglich war, beugte ich mich zu ihm hinunter und streichelte seine Hand.
»Es tut mir leid, Dad«, sagte ich. »Ich nehme an, du hast die Nachricht gehört. Du erinnerst dich noch an Val Dickerson,
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