Das Leben Findet Heute Statt
Schweigeorden, warum sie auch bei Mahlzeiten kein Gespräch zulassen …
In der Küche habe ich schon gesagt, welche Herausforderung das gemeinschaftliche Essen für den Koch ist. Für den einzelnen Bruder besteht sie darin, eine gute Balance zu finden zwischen dem Recht auf den persönlichen Geschmack und der Pflicht, sich auf ein neues Aroma einzulassen. Nur zu sagen: «Das schmeckt mir nicht!», stört die Gemeinschaft. Wer so redet, macht sich abhängig von seinen engen persönlichen Vorstellungen. Außerdem: Die Mitmenschen sind doch nicht dafür da, ständig den individuellen Geschmack zu bedienen.
Das gilt nicht nur fürs Essen. Das ganze Leben wird langweilig, wenn man sich nur dem stellt, was einem schmeckt. Am Ende isst man nur noch Wiener Schnitzel mit Pommes. Und nur, wenn es sein muss, mit Salat. Die lange Reihe der Imbissanbieter könnte ihre Speisekarten gemeinsam drucken. Das wäre billiger und könnte auch die überzogenen Preise senken, die für ein wenig Hackfleisch, zwei Zwiebelringe, eine Scheibe Tomate und ein Salatblatt verlangt werden. Oder für ein Fladenbrot mit einigenFleischstückchen auf ein bisschen Grünzeug und mit viel Soße.
Das Speiseverhalten in unserer Gesellschaft entspricht in etwa dem Nutzungsverhalten beim Umgang mit Textverarbeitungsprogrammen: Man kennt nur etwa acht Prozent der Möglichkeiten und verschiebt das Lernen der restlichen 92 Prozent auf morgen, statt heute damit anzufangen, seinen Horizont zu erweitern. Jeder vor seinem Bildschirm. Jeder vor seinem Teller. Möglichst noch mit Kopfhörern abgeschottet von der Umwelt. So können keine neuen Ideen entstehen.
Im gemeinsamen Mahl werden Ideen durchgekaut. Man gewinnt Geschmack nicht nur an neuen Speisen, sondern auch an neuen Perspektiven. Mittlerweile wird das auch in Personalabteilungen großer Firmen erkannt. Neu zusammengesetzte Teams starten nicht mehr einfach zu einem langweiligen Geschäftsessen. Sie treffen sich in einem Restaurant, wo sie an einem karg gedeckten Tisch Platz nehmen. Nach einer kleinen Vorspeise kommt der Küchenchef. Er inszeniert eine wortreiche Entschuldigung, dass ihm das Küchenpersonal ausgegangen sei. Leider müsse er die Tischgesellschaft bitten, selbst mit Hand anzulegen. Ohne viel Federlesen hält er jedem eine Kochschürze entgegen. Alle stehen auf und begeben sich in die Schauküche, die offen an den Speisesaal angegliedert ist. Plötzlich schneidet der Abteilungsleiter mit dem Gemüsehobel die Karotten, der Praktikant bereitet unter Anleitung die Suppe zu, der Senior im Team schlägt die Sahne, und zwei bis dahin einander fremde Mitarbeiter übernehmen das Eindecken und Schmücken des Tischs. Nach anfänglicher Skepsis entsteht eine Atmosphäre, in der man sich menschlich näherkommt. Beim anschließenden Mahl werden die angeregten Gespräche, die beim gemeinsamen Werkeln aufkamen, weitergeführt. Der Abend räumt Vorurteilebeiseite, bricht vorhandene Skepsis auf und führt zu Tischgesprächen, in denen Menschen von sich und ihrer Herkunft erzählen, Motivationen preisgeben und sich gegenseitig überraschen. Man begegnet zusammen der neuen Situation und findet auf diese Weise leicht zu einer gemeinsamen Basis, von der aus man als neues Team starten kann. Der Kontakt beim Essen sorgt dafür, dass man ein Gefühl füreinander entwickelt. Der gemeinsame Genuss von Früchten der einen Mutter Erde, wie Franziskus sie nennt, bindet wie von selbst in den gemeinsamen Weg ein. Eine intensive Mahlgemeinschaft, ganz im Heute genossen, ist der kreative Ort, an dem man alles durchkauen kann und dabei zu Visionen für morgen kommt, die einer allein nie hätte entwickeln können.
Deutschland sollte sich wieder mehr Mahlgemeinschaften leisten. Es lähmt die Produktivität von Schülern, Arbeitern und Angestellten, wenn das gemeinsame Mahl zu kurz kommt. Natürlich entstehen Kosten, wenn man für eine gute Atmosphäre im Speisesaal sorgt. Decken auf dem Tisch, eine frische Blume hier und da und entsprechende Servietten können schon viel ausmachen. Und da, wo es möglich ist, bitte die Büfetts wieder abbauen. Es erfüllt mich mit Unbehagen, wenn ich mich mit einer Gruppe in einem Bildungshaus befinde und beim Mittagessen zum sogenannten Büfett gehen muss, um dann wie alle anderen mit meinem gefüllten Teller durch den ganzen Raum zu meinem Platz zu jonglieren. Da sitzt dann jeder mit dem, was ihm schmeckt, vor seinem Teller. Man wartet nicht mehr aufeinander, weil der andere ja noch
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