Das Leben Findet Heute Statt
5-Jährige zum Gespräch kommen, die dachten, das ganze Leben läge nochvor ihnen. Nun merken sie plötzlich, dass es schon hinter ihnen liegt. Es gibt ein Zu-spät. Deswegen müssen wir wach sein. Es stimmt immer wieder: Das Leben findet heute statt.
Heute machen wir die Fehler, die wir uns später vermutlich nicht mehr verzeihen können. Darum ist es wichtig, dass wir nach Gesprächsformen suchen, in denen wir unser Leben überprüfen. Im Kloster gibt es dafür die geistliche Begleitung. Man sucht sich außerhalb der eigenen Gemeinschaft einen Begleiter, mit dem man alle sechs Wochen seine Situation im Leben bespricht. In sozialen Berufen ist Supervision üblich geworden, damit die eigene Arbeit besser überblickt werden kann.
Wir brauchen in Deutschland eine neue Demut. Franziskus von Assisi hielt dieses mittlerweile selten gebrauchte Wort für einen Schlüsselbegriff. Dazu gehört auch die Brüderlichkeit. Beide wollen hellsichtig machen. Wenn der eine sich nicht über den anderen erheben will, kann der Dialog beginnen. Wir sprechen dann über Fehler. Wir suchen nach Lösungen. Wir hören endlich auf, die Situation zu beschönigen. Wir beginnen zu begreifen, dass Schuld keine Privatsache ist. Wir lernen, uns mit dem Bekenntnis von Sünden in ein gutes Licht zu stellen. Es ist das Signal für den Anfang einer neuen Kommunikation.
Schuld kann nur benannt werden, wenn man sich wirklich angenommen weiß. Sobald wir uns einander als Menschen begreifen, die in ein sinnvolles Ganzes eingebettet sind, werden wir auch darauf kommen, dass wir nicht bis morgen warten müssen, um gut zu leben. Die Wahrheit ist, dass diese Welt ein sinnvolles Woher hat, ein gewolltes Woher, ein mit Absicht erfülltes Woher. Der heilige Bonaventura als Nachfolger des heiligen Franziskus im Amt des Generaloberen des Ordens benennt diese Absicht. Als Professor in Paris antwortete er aufdie Frage, warum Gott die Welt geschaffen habe: «Deus vult condeligentes – Gott will Mitliebende.»
Schuld wäre demnach, nicht mitlieben zu wollen. Sich selbst gute Aussichten verschaffen zu wollen, anstatt den guten Aussichten zu trauen, die Gott für die Welt hat. Sie ist aus der Freude Gottes an sich selbst entstanden. Franziskus erkennt ganz neu, was die Rede von Vater und Sohn und Heiligem Geist bedeutet: In Gott ist ein ewiger Beziehungsreichtum. Daraus tanzt die Welt als Kreatur heraus. Ihr einziger Sinn: Gott zurückzulieben.
Schuld darf man zeigen, weil sie eine Störung im Prozess des Zurückliebens ist. Sünde, so könnte man sagen, ist die Unterbrechung des Flusses der Liebe. Radikal unterbrochen, so sehen es die Christen, als die Menschen, oder nennen wir es ruhig deutlicher: als wir Menschen Jesus mit unserer selbstbezogenen Überlebensstrategie ans Kreuz brachten. Denn bis heute sind die Anfragen Jesu an das Leben der Menschen provokant.
Radikal wurde der Liebesstrom wieder eingesetzt, als Gott, so bekennen wir Kapuziner es als Christen, ihn auferweckte, damit von da an eine menschliche Liebeskraft dauerhaft die Welt durchströmt und nie mehr unterbrochen werden kann.
Wir dürfen einander sagen, dass wir uns nicht immer im Griff haben. Es wird viel Kraft frei, wenn wir dem anderen nicht mehr ständig beweisen müssen, dass wir vertrauenswürdig sind. Ein Chef, der Fehler zugibt, steigt im Ansehen seiner Mitarbeiter. Seine Autorität wächst weiter, wenn er es zulässt, dass auch sie ihn kritisieren dürfen. Er muss nicht alles selbst wissen. Er wird viel mehr von seinem Betrieb sehen, wenn er ihn mit der Haltung leitet, dass er blinde Flecken in der Wahrnehmung hat und deswegen auf Hinweise angewiesen ist.
Genau das ist mit dem Selbstvertrauen des Heiligen gemeint. Er zehrt von dem Vertrauen, das Gott zu ihm hat. Seine Einstellung:Aus mir bin ich nichts. Aber aus Gott bin ich alles. Und für ihn bin ich alles.
Wer mit der Schuld umgehen lernen will, kann sich erinnern, wie es die Heiligen getan haben: Sie haben ihr Haupt mit Asche bedeckt. Das war ihnen wichtig. Sie wollten sich und anderen zeigen: Wir haben uns nicht selbst ins Dasein gerufen. Wir sind aus Erde gemacht. Unsere Gedanken, Fähigkeiten, Neigungen fanden wir vor. Das alles ist uns gegeben als Gabe, die verpflichtet. Unsere Aufgabe ist es, zu entwickeln, was uns geschenkt ist. Wir sind uns selbst geschenkt. Wer das in Demut anerkennt, stellt keine großen Ansprüche ans Leben. Der wird hellwach, wie er heute mit dem, was da ist, etwas tun kann. Er wird bescheiden seine
Weitere Kostenlose Bücher