Das Leben in 38 Tagen
schon
lange nicht mehr gesehen hatte. Er saß wieder einmal allein, trank Rotwein und
schien mich auch nicht mehr zu kennen. Man hatte immer den Eindruck, dass er
nicht gestört werden wollte. In Torres del Rio hatte ich ihn lachen und reden
gehört. Ja, das war eine lustige Runde gewesen im Hof von Doña María; mit den netten deutschen Jugendlichen, dem deutschen Ehepaar, das immer
irgendwelche Probleme hatte, den kochenden fröhlichen Franzosen, Anne-Marie,
der Spanierin mit den Fußproblemen und meinen beiden englischen Freundinnen
Charlotte und Madlen ! Keinen Einzigen der damaligen
Truppe hatte ich in letzter Zeit wiedergesehen. Was war wohl aus ihnen allen
geworden? Vielleicht waren der Australier und ich die einzigen beiden, die die
gesamte Strecke gelaufen sind! Na gut, er wollte sich scheinbar nicht
unterhalten...
Einige
Pilger waren noch einmal in den Ort gegangen, um essen zu gehen oder
einzukaufen, aber mir war das heute zu weit. Inzwischen standen auch noch
einige Neuankömmlinge an der Eingangstür und wollten hier übernachten. Ich
erkannte Elke, die Hamburgerin, und winkte ihr zu. Resolut, wie sie war, ließ
sie sich von dem wirklich unfreundlichen Hospitalero nicht abweisen, sondern
erklärte ihm, dass sie draußen übernachten wollte. Das konnte der Mann nicht
akzeptieren, da es erst Anfang Mai war und es nachts kalt sein würde. Aber Elke
wäre nicht Elke, wenn sie sich nicht durchsetzen könnte. Sie zeigte auf die
Betten, die unter einer Überdachung an der Hauswand lehnten. Der verblüffte
Hospitalero verlangte nun nicht einmal mehr die drei Euro, die die Übernachtung
hier normal kostete, und Elke marschierte stolz an ihm vorbei. Einige andere
taten es ihr nach und ich half ihnen, aus Matratzenbergen einen Windschutz zu
bauen. Im Sommer war es bestimmt sehr schön, hier im Freien zu übernachten, aber
ob es heute schon warm genug war? Immerhin hatte den ganzen Tag die Sonne
geschienen und die Steine hatten vielleicht noch etwas Wärme gespeichert.
Auf
jeden Fall wurde es ein lustiger Abend. Wir konnten noch lange draußen sitzen
und Rotwein trinken, den der mürrische Hospitalero in einem kleinen Anbau
verkaufte. Seltsamerweise hatten sich heute sehr viele Deutsche hier
eingefunden; Bekannte und Unbekannte. Annemarie aus Kiel war eingetroffen, das
Ehepaar, welches seine Schwester und Schwägerin Elfriede vergrault hatte, zwei
bayrische Freundinnen etwa in meinem Alter, ein älteres Ehepaar aus Goslar und
Sonja aus der Nähe von Leipzig, die jeder schon kannte und die jeden kannte
außer mir. Sonja war 47 Jahre alt, lachte und redete viel und laut. Als sie
erfuhr, dass ich auch aus der ehemaligen DDR stammte, sah sie in mir gleich
eine Verbündete.
Sie
hatte Landwirtschaft studiert und war nach der Wende arbeitslos geworden wie so
viele in ihrer Gegend. Das Problem bestand darin, dass es neben dem Wegfall von
Arbeitsplätzen ganzer Betriebe ja auch solche Berufe gab, deren Qualifikation
nicht anerkannt wurde oder die in der BRD gar nicht existierten. Im mittleren
und östlichen Teil der ehemaligen DDR kamen diese Probleme dann massenhaft zum
Tragen, zumal die Menschen auf den Dörfern, wie Sonja, meist ein eigenes Haus
hatten, das sie nicht so einfach aufgeben konnten. So blieben sie oft gefangen
in ihrer Herkunft und in ihrem Umfeld, während sie krampfhaft versuchten, sich
in dem neuen System zu etablieren. Sonja hatte sich zur Steuerberaterin
umschulen lassen, wurde aber mit dieser Tätigkeit nicht glücklich. So versuchte
sie, sich durch Gartenarbeit, Beschäftigung mit ihrem Hund und verschiedenen
Kleintieren einen Ausgleich zu schaffen, was ihr aber nicht so recht gelang.
Sonja
erschien mir ziemlich frustriert, was sie durch ihre lockere, selbstbewusste
Art zu überspielen versuchte. So beschlossen wir gemeinsam, unsere Sorgen im
Rotwein zu ertränken, und leerten schließlich fast allein zwei Flaschen. Danach
sah die Welt schon etwas anders aus, zumindest trug sie einen rötlichen Schein
(ha, ha)!
Ehe
wir uns ins Bett verabschiedeten, sahen wir noch einmal nach unseren „ Draußenschläfern “ und plötzlich wollte Sonja auch im Freien
übernachten! Es sah so richtig romantisch aus, wie die drei oder vier Pilger in
ihre Schlafsäcke und Decken eingemummelt auf den Betten unter dem Vordach lagen
und strahlten. Wie uns Elke versicherte, gab es hier draußen sogar eigene
Toiletten und Duschen. Was für ein Luxus! Und die Luft war bestimmt auch besser
als in dem einzigen stickigen Raum
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