Das Leben in 38 Tagen
körperlichen Schmerzen aufzuwiegen, sie
damit zu neutralisieren? Konnte ich noch so weit laufen, dass ich die innere
Leere erreichen würde, von der ich geträumt hatte? Hape Kerkeling hatte es auch geschafft, eine Strecke in völliger Gedankenlosigkeit
zu gehen, und war davon sehr beeindruckt gewesen. Aber bei mir schien das wohl
anders zu sein. Obwohl ich immer wieder versucht hatte, längere Zeit allein zu
laufen, war es mir bis jetzt kaum gelungen und langsam zweifelte ich an meiner
Kraft. Allerdings hatte ich gestern auch etwas zu viel Rotwein getrunken!
Mir
fiel plötzlich eine Liedzeile der „Fanta Vier“ ein: „Es könnte alles so einfach
sein; ist es aber nicht!“ und „Zweifeln wir an unserer Power, dann powern wir
nur unsere Zweifel!“ Ein schöner, wahrer Song mit typischer eingängiger
Melodie. Also versuchte ich, durch Singen meine Schmerzen zu ignorieren und nicht
zu verzweifeln. So ging ich zwar immer mühsamer und humpelnder, aber fest
entschlossen die sechzehn geplanten Kilometer von Ponferrada bis nach
Cacabelos. Eigentlich waren ja sechzehn Kilometer relativ wenig im Vergleich zu
anderen Strecken, aber heute fielen sie mir unheimlich schwer. Heute musste ich
mich richtig quälen.
Dabei
führte der Weg sogar einmal über die Brücke der Autobahn von León nach Lugo.
Auf der einen Seite lief ich auf der alten Römerstraße, auf der anderen Seite
sah ich die moderne Autobahn. Dazwischen lag eine fast unvorstellbare Zeit von
fast 2000 Jahren. Immer wieder war es interessant, zu erleben, wie sich auf dem
Jakobsweg Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart berührten. Hier schien alles zu
verschmelzen, auch die körperlichen und seelischen Schmerzen... Die letzten
Kilometer lief ich durch grüne Weinberge, aber nun hatte ich leider kaum noch
einen Sinn für die schöne Landschaft; ich musste mich regelrecht schleppen und
war dem Weinen nah. Manchmal liefen mir auf einer Bank dann wirklich die
Tränen, weil ich mich anscheinend so quälen musste, um wieder glücklich zu
sein... Dabei wurden die Schmerzen nur immer schlimmer. Sollte ich es
vielleicht doch nicht schaffen, die ganze Strecke zu laufen? Würde ich wegen
meinen Füßen so kurz vor Santiago etwa auch noch einmal fahren müssen wie das
junge Mädchen heute Morgen, um wenigstens die letzten hundert Kilometer laufen
zu können?
Eigentlich
war ich doch noch gestern überzeugt gewesen, alles zu schaffen, was ich mir
vornahm. Vom Loslassen über Verzeihen und Annehmen bis zum Bewältigen der
körperlichen Strapazen. Ultreja e sus eja !
Und
irgendwann nimmt ja tatsächlich auch der längste Weg ein Ende und so kam nach
gefühlten fünfzig endlosen Kilometern doch irgendwann die kleine Stadt
Cacabelos in Sicht. Nun musste ich nur noch den Ort durchqueren und gleich
hinter der Brücke über den Fluss Cua die Herberge
erreichen. Endlich geschafft! Ich glaube, ich war so fertig wie noch nie in
meinem Leben. Heute passierte es mir das erste Mal auf dem Weg, dass ich mich
sofort auf mein Bett warf und auf der Stelle einschlief! Immerhin war es erst
16.00 Uhr. Als ich dann etwas erholt zwei Stunden später zum Duschen ging, traf
ich Sonja, meine „ Trinkkumpanin “ von gestern Abend.
„Hast
du auch solche Probleme?“, sagte sie mit Blick auf meinen humpelnden Gang. Als
ich nickte, fragte sie: „Hast du vorn das Schild von der Massage gesehen? Fünf
Euro für Fußmassage und zehn Euro für Rückenmassage. Wollen wir mal fragen?“
„Oh — ja, ja, ja!“, antwortete ich. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.
Also gingen wir zusammen mit Hilfe eines jungen Holländers die Hospitalera
fragen und nach einem kurzen Anruf — hurra! Der Masseur wollte in fünfzehn
Minuten in der Herberge sein. Wir brauchten also nicht einmal mehr laufen. Schnell
ging ich duschen und Wasche waschen und dann kam die große Überraschung!
Fine
hübsche junge Frau mit einem großen Koffer in der Hand stellte sich als
Masseurin Elena vor. Aber die Massage sollte nicht etwa in einem Raum
stattfinden, sondern mitten auf dem Hof. Dazu muss man sagen, dass diese
Herberge ganz besonders originell erbaut worden ist. Sie war nämlich im
Halbkreis um eine alte Kirche errichtet worden, genau an der alten
Umgebungsmauer entlang, die nun als Rückwand der Herberge diente. Dahinter gab
es einen großen Park mit alten Bäumen, der vielleicht früher einmal als
Friedhof gedient hatte. Die Unterkunft bestand aus 35 Mini-Zweibettzimmern auf
einer Etage, die nur durch dünne
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