Das Leben in 38 Tagen
als zweite
Hand ihres Chefs, bis dieser in den Ruhestand ging.
Ich
konnte nur den Hut vor dieser Frau ziehen, allein mit den Kindern so viel Mut
aufzubringen, und ein neues, ungewisses Leben zu beginnen. Den Kontakt zu ihrem
Mann hatte sie dabei aber nie ganz aufgegeben, um ihm zu helfen. Sie hatte nie
wieder geheiratet. Wahrscheinlich liebte sie ihn immer noch, hatte aber
erkannt, dass in diesem Fall im Loslassen, nämlich in der räumlichen Trennung,
die einzige Möglichkeit für die ganze Familie bestand, wenn nicht alle darunter
leiden sollten. Man konnte an ihrer ganzen Art spüren, wie konsequent und fest
eingerichtet Heidemarie in ihrem Inneren war. Dazu sprach sie perfekt Spanisch,
Englisch und Deutsch und stellte somit wohl eine ideale Reisegefährtin für mich
dar. Außerdem war sie mit ihren siebzig Jahren auch körperlich noch so flott,
dass ich kaum hinterherkam.
Zunächst
ging es mitten durch Weinberge einer herrlich grünen Flügellandschaft und das
Laufen auf den sandigen Feldwegen bereitete uns keine Probleme. Nur das
Zwitschern der Vögel und Kuckucksrufen aus dem nahen Wald begleitete uns. Ein
wunderschöner Frühlingsmorgen schien uns mit allen vergangenen Strapazen
versöhnen zu wollen. Plötzlich, beim Laufen durch strauchbegrenzte Wege, fiel
mein Blick nach links und mein kurzes Erschrecken verwandelte sich schnell in
freudiges Erstaunen. Da saß doch tatsächlich jemand mitten im Gebüsch und
frühstückte. Wer hatte wohl solche verrückten Ideen? Es war Elke, die
pensionierte Lehrerin aus Hamburg. Es gab ein großes Hallo, weil wir sie
entdeckt hatten, denn Elke hatte hier ein schönes Beobachtungsplätzchen
gefunden, an dem die meisten Pilger achtlos vorbeiliefen. Ich freute mich, Elke
endlich mal wieder zu treffen, aber sie wollte doch lieber allein weiterlaufen,
so wie sie es sich vorgenommen hatte. Ich lief mal wieder zu zweit, obwohl ich
mir auch das Alleingehen vorgenommen hatte...
In
Villafranca del Bierzo, einem wunderhübschen Städtchen von etwa 4000 Einwohnern
mit allein fünf Kirchen und mehreren Herbergen, legten Heidemarie und ich dann
unsere erste Frühstückspause ein. Wir setzten uns schön kultiviert vor eines
der vielen Cafés mit Blick auf einen herrlichen Marktplatz und genossen den
sonnigen Morgen. Der Ort erinnerte mich wieder einmal an mein Heimatstädtchen,
welches genauso schön mit einem Schloss geschmückt auf einem Hügel liegt und
sich dann ebenfalls sanft bis zu einem grünen Flusstal hinunterzieht. Wie mein
Reiseführer erzählte, wird Villafranca del Bierzo auch „das kleine Compostela“
genannt, und das nicht nur wegen seiner zahlreichen Kirchen und Monumente, den
mehreren einstigen Pilgerhospitälern sowie einer Burg aus dem sechzehnten
Jahrhundert, sondern vor allem, weil den Pilgern hier schon der Ablass von den
Sündenstrafen gewährt wurde, wenn sie auf dem Weg erkrankt waren und nicht mehr
weiterlaufen konnten. Also, hier hätten wir unser kleines Ziel schon erreicht.
Das beruhigte doch ungemein. Aber nichtsdestotrotz wollten wir beide ja unser
großes Ziel erreichen, welches Santiago de Compostela hieß...
Heidemarie
erzählte mir unterwegs, dass sie in León ganz schlechte Erlebnisse gehabt hatte
und sogar einige Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Als sie nämlich im
dortigen Kloster übernachten wollte, bekam sie plötzlich schlimmen Brechdurchfall,
während die Ordensschwestern sie nur auf den Morgen vertrösten wollten! Das
konnte ich fast nicht glauben. Die Nonnen hatten am Abend keine Zeit und
mussten in die Messe gehen. Das war ihnen wichtiger, als ihr zu helfen. Sie
wollten ihr nicht einmal Durchfallmedikamente oder einen Arzt besorgen. Selbst
Tee mussten ihr die Mitpilger kochen! Da sie sich aber wirklich ganz schlecht
fühlte, blieb ihr nichts weiter übrig, als über einen Mitpilger ihren Sohn in
Deutschland anzurufen, der ihr über die ADAC-Auslandskrankenversicherung einen
Transport ins Krankenhaus besorgte, wo sie dann volle zwei Tage Infusionen
erhielt. Da sie sowieso schon sehr schlank war, hatte sie dabei bestimmt einige
Pfunde verloren und damit auch enorm viel Kraft. Vor allem aber war ihr
Vertrauen in die Hilfsbereitschaft der Hospitaleras erschüttert worden. Das war besonders schade, denn das Beispiel der Nonnen in
der Klosterherberge von León war eines der wenigen negativen Beispiele für das
Verhalten der Spanier gegenüber den Pilgern insgesamt.
Und
nun lief Heidemarie weiter, als ob nichts geschehen wäre!
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