Das Leben in 38 Tagen
einen
Hamburger mit Pommes gönnte, während ich mir einen Tee nach dem anderen
bestellte und dabei missmutig meine mitgebrachten Zwiebäcke aß.
Vielleicht
lag es ja an dem Durchfall, dass mir das Laufen heute so schwer gefallen war
und mich die vielen Menschen in der Stadt störten. Mir tat es nur für Martin
leid, dass ich gerade an unserem letzten gemeinsamen Abend nicht so gut drauf
war. Martin hat zum Glück die beneidenswerte Eigenschaft, alles von der
positiven Seite zu sehen, und so freute er sich schon auf die Tage in Madrid.
Ich bewunderte meinen eigenen Sohn. Man hatte ihm kaum angemerkt, dass er kurz
vor unserer Reise seine Freundin verloren hatte, mit der er fast drei Jahre
zusammen gewesen war. Er ist ein Lebemann und wollte vorläufig weder heiraten
noch Kinder haben. „Mutti, ich kann euch nicht versprechen, dass ich euch zu
Großeltern mache!“, hatte er oft gesagt. Wir können das akzeptieren, aber seine
Freundin, die uns auch schon ein bisschen ans Herz gewachsen war, leider nicht.
Ich
denke, dass jeder so leben soll, wie er es für richtig hält, wenn er damit
keinem anderen schadet und dem anderen nichts vormacht. Hauptsache, er ist
glücklich. Das schönste Geschenk für Eltern ist doch, wenn das eigene Kind zu
ihnen sagt, dass es glücklich ist, und das war bei Martin der Fall. Dabei hatte
er bestimmt keine leichte Kindheit; die ersten drei Jahre haben wir in einem
Zimmer im Schwesternwohnheim in Dresden gewohnt, dann erfolgte der Umzug nach
Berlin, mit fünf Jahren Augenoperation, mit neun Jahren Umzug in mein
Elternhaus nach Geisa, dann kam die Wende, was besonders für Schulkinder wie
Martin einen großen Einschnitt bedeutete. Hinzu kamen Krankheit und Tod der
Großeltern, die direkt im Haus lebten, Arbeit und Hausumbau, so dass wir immer
sehr wenig Zeit hatten. Aber die Zeit, die uns blieb, haben wir unseren Kindern
geschenkt. Sie sollten sich immer sicher und geborgen fühlen und das ist uns
scheinbar gelungen. Darüber bin ich sehr froh.
Nachdem
wir uns noch ein wenig unterhalten hatten, kauften wir in einem riesigen
Busbahnhof eine Fahrkarte für den Nachtbus nach Madrid und dann hieß es auch
schon Abschied nehmen. Ich bedankte mich herzlich bei meinem Sohn für die
schönen Tage und ein Tränchen kullerte wohl auch die
Wangen hinunter. Martin war sich sicher, dass ich es zu Fuß bis Santiago
schaffen würde. Er war stolz auf mich und ich auf ihn. Wir würden wohl beide
die gemeinsame Zeit nicht vergessen und waren froh und dankbar, das zusammen
erlebt zu haben.
Nun
musste jeder wieder seinen eigenen Weg gehen, so wie es der Camino uns jeden
Tag lehrt: Loslassen und Neubeginn. Orte und Menschen, die uns manchmal lieb
und vertraut wurden, - loslassen, damit man weitergehen kann, jeder in seinem
eigenen Rhythmus, manchmal jemanden findend, der den gleichen Rhythmus hat,
aber immer nur ein Stück, dann ändert sich der Rhythmus wieder...
Das
war etwas ganz Wichtiges, was ich auf dem Weg lernen wollte; loslassen von
allem, was mich belastet, statt mich voranzubringen, meinen eigenen Rhythmus zu
finden, mich selbst zu finden. In jedem Buch, das ich über den Jakobsweg
gelesen hatte, war von Selbstfindung die Rede. Also sollte dieser Weg ein Weg
zu mir selbst sein, fern aller Ablenkung durch Medien, ätzende Werbung und
tägliche Pflichten. Ich war nur noch mir selbst verpflichtet und ich war
gespannt, was es mir bringen würde.
5.
Der Pilger
Der
Pilger,
Die
Wallfahrt und der Weg:
Nichts
anderes als ich Hin zu mir
(Farid
Addin Attar)
Am
Sonntagmorgen hätte ich gern den Gottesdienst besucht oder mir wenigstens die
Kathedrale angesehen, aber leider war um 8.30 Uhr noch alles geschlossen und
ich hätte bis 10.30 Uhr warten müssen. So entschied ich mich für das
Weiterlaufen, denn so schön die Stadt auch sein mochte, mit dem schweren Gepäck
machte es keinen Spaß, einfach nur umherzubummeln .
Außerdem zog mich eine innere Stimme wieder auf den Weg, hinaus in die
Einsamkeit, in die Natur. Ich spürte, dass der Sinn meines Weges dort draußen
lag, und ich hoffte einfach, heute unterwegs noch auf eine Kirche zu stoßen.
Seit
ich vor zwei Jahren auf einer Pilgerfahrt in Rom war, ist es mir ein inneres
Bedürfnis, am Sonntag die Kirche zu besuchen. Ich lasse mich dabei von keinen
äußeren Zwängen leiten, sondern tue damit nur etwas für meine Seele. So komisch
das klingen mag, aber ich habe damals, als es mir psychisch ganz schlecht ging,
eine tiefe innere Beruhigung
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