Das Leben in 38 Tagen
E-Mails, während der Regen an die Scheiben trommelte. Mir machte es
Spaß, in Ruhe hier zu sitzen und die angenehme Wärme, die mir ein kleiner
Elektroofen schenkte, zu genießen, und so fand dieser aufregende Tag noch einen
gemütlichen Abschluss. Als ich mich dann ziemlich spät in meinen Schlafsack
kuschelte, fiel mir doch der Traum von letzter Nacht ein. Lange schon hatte ich
meine eine Zeitlang immer wiederkehrenden Albträume nicht mehr gehabt, in denen
es meist um Hochwasser ging, in das ich am Ende immer hineinfiel oder mit dem
Auto hinein fuhr und dann ertrank, egal, was ich dagegen unternahm! Ich hasste
diese Albträume ebenso wie die, in denen ich verfolgt und schließlich
körperlich gequält wurde!
Letzte Nacht nun war ich auf einmal mit dem
Auto im Schnee stecken geblieben und wurde mit vielen anderen Menschen und
ihren Autos unter einer Schneelawine verschüttet! Immer durchlebte ich im Traum
die Angst vor dem Ersticken oder vor sonstiger körperlicher Qual.
Warum nur träumte ich solchen Unsinn? Waren
das meine geheimsten Ängste? Eigentlich liebte ich sowohl das Wasser als auch
den Schnee. Es ist alles eine Frage des Maßes, oder? Na, vielleicht war auch
nur der nicht ganz so gute Rotwein gestern schuld! Mit diesem Gedanken schlief
ich ein.
Am nächsten Morgen zeigte der Kalender
Sonntag, den 29. April, und somit den neunzehnten Tag meiner Pilgerreise an.
Bis heute hatte ich 370 Kilometer zurückgelegt und langsam musste ich mir einen
Plan machen, damit ich auch wirklich am 18. Mai in Santiago ankommen würde.
Simone, Carol und ich berieten am Frühstückstisch, wie weit wir heute laufen
könnten. Am besten wäre es, wenn wir gleich einen Gewaltmarsch von 33
Kilometern bis Calzadilla de la Cueza schaffen würden. Ansonsten blieb nur die
Möglichkeit, in Carrión de los Condes zu übernachten, das aber nur sechzehn
Kilometer entfernt lag. Während wir noch das Geschirr abwuschen und alles
zusammen aufräumten, einigten wir uns darauf, dass jeder für sich versuchen
sollte, die weite Strecke in Angriff zu nehmen, und wir uns entweder in der
dortigen Herberge treffen würden oder auch nicht.
18. Aghi und die Wunder von Carrión de los Condes
Draußen empfingen uns angenehme
Lauftemperaturen und es hatte aufgehört zu regnen. Ein Stückchen lugte die Sonne
hinter den grauen Wolken hervor und ich schritt mit dem leichten Wind im Rücken
forsch voran. Welch ein Glück hatten wir doch, gerade
bei diesem Wetter über die etwa 200 Kilometer lange, fast schattenlose Hochebene laufen zu
können. Circa siebzig Kilometer davon hatten wir nun schon zurückgelegt und
alles sah so aus, als ob ich heute noch einmal so eine lange Strecke wie
vorgestern angehen sollte, und das nahm ich mir dann auch vor. Die nächsten
Berge gab es erst wieder in ein paar Tagen. Also, ultreja !
Auf geht’s!
Simone
war schon flott vorausgegangen; sie hatte anscheinend der Ehrgeiz gepackt, denn
ich sah sie nur noch als schwankenden roten Punkt in der Ferne, der nicht mehr
näher kam. Carol war als Letzte losgelaufen. Sie dachte in ihrer zurückhaltenden
Art, dass Simone und ich Freundinnen wären, und wollte sich nicht aufdrängen.
Ich konnte nicht erkennen, ob sie hinter mir herkam, aber ich genoss es wieder
intensiv, allein zu gehen. So konnte ich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen,
die den gestrigen Tag noch einmal durchliefen, und ich dankte Gott für die
Zeit, die ich mir selbst einteilen konnte, für die schöne Laufstrecke, das gute
Wetter und jeden neuen Tag!
Nach
zweieinhalb Wanderstunden, die hauptsächlich neben einer wenig befahrenen
Landstraße entlanggeführt hatten, erreichte ich Villalcázar de Sirga, ein
kleines Dorf mit einer viel zu großen Kirche. Auch dieser Ort schien also eine
bedeutende Vergangenheit hinter sich zu haben. Trotzdem war mir der Weg bis
hinauf zur berühmten, aber eventuell geschlossenen Kirche zu weit. Ich setzte
mich, mit dem Rücken an ein altes Lehmhaus gelehnt,
auf eine schmale Holzbank am Ortseingang und beobachtete die wenigen Fußgänger
und Pilger am Sonntagmorgen. Dabei musste ich mir eingestehen, dass ich doch
ganz schön fertig war nach neunzehn Tagen ununterbrochenen Laufens. Meine Füße
hatten schon wieder neue Blasen und schmerzten trotz der Klebebinden, und meine
Schultern und mein Rücken sehnten sich nach einer guten Massage. Auf jeden Fall
war mir jeder Umweg schon zu viel geworden und ich wollte nur noch so schnell
wie möglich die Hälfte der Strecke überschreiten.
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