Das Leben in 38 Tagen
stellte Herbert Grönemeyer dar, der kurz
hintereinander seine Frau und seinen Bruder durch den Albtraum Krebs verloren
hatte. Für seine Kinder musste er stark sein und schaffte es durch seine
wundervollen Texte, seine Trauer zu verarbeiten. Ich dachte darüber nach, dass
jeder Mensch seinen eigenen Weg entsprechend seinen individuellen Möglichkeiten
finden muss, mit dem es ihm dann am besten gelingt, Schwierigkeiten zu überwinden.
Wenn
ich es schaffen würde, den Weg bis zum Ende zu gehen, würde ich es auch
schaffen, meine Probleme zu bewältigen. Den heutigen Teil der Meseta wollte ich als Sinnbild dafür sehen, dass auch der längste Weg einmal
ein Ende nimmt, so wie jede Talsohle im Leben einmal ein Ende nimmt. Man muss
nur immer weitergehen, immer vorwärts, auch wenn der Wind mit aller Macht
dagegen bläst... „Wer hilft dir, dass du trauern lernst, du dich nicht von dir
entfernst, du dich nicht von dir entfernst... Dreh dich um, dreh dich um, dreh
dein Kreuz in den Sturm, wende den Wind, bis er dich bringt, weit zum Meer, du
weißt, wohin... geh gelöst, versöhnt, bestärkt, selbstbefreit den Weg zum
Meer...“ - Herbert Grönemeyer.
Wir
liefen und liefen und ich kämpfte und kämpfte. Mit meinen Gedanken, mit meinen
Füßen, mit meinen Schultern, dem immer kälter werdenden Regen und dem scheinbar
uns auslachenden Wind. Erschwerend hinzu kam , dass
nicht nur wir vor Nässe trieften, sondern auch alles um uns herum und es weder
eine Bank noch sonst irgendeine Möglichkeit gab, den Rucksack, wie sonst
üblich, einmal zwischendurch abzustellen. Es gab buchstäblich nichts außer
endlosen Weizenfeldern, dieser alten Römerstraße und uns selbst in diesem
strömenden Regen. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor eine warme Stube so
herbeigesehnt! Nach gut vier scheinbar endlosen Stunden und fast
unaufhörlichem, starkem Regen und Gegenwind tauchten die ersten Silhouetten
auf. Es waren die Umrisse eines kleinen, ärmlich wirkenden Dorfes: Calzadilla
de la Cueza! Geschafft! Endlich!
Ein
gelber Pfeil führte uns in ein Restaurant, das sich angenehm von den übrigen
winzigen Lehmhäusern abhob. Rauchgeschwängerte warme Luft, der feuchte Dunst
nasser Kleidung und der Lärm zahlreicher Menschen umfing uns. Carol steuerte gleich auf den Tisch mit den beiden jungen Männern von
unterwegs zu und auch ich entdeckte einige bekannte Gesichter.
19.
Ein kanadisch-deutsches Pilgerduo in der Meseta
Ich
war erstaunt, Achim allein anzutreffen, der gerade im Gehen begriffen war. Er
sagte mir, dass er die anderen aus den Augen verloren hätte und nun jeder
wieder allein unterwegs sei. Auf mich machte Achim immer noch einen ziemlich
traurigen Eindruck, aber vielleicht wirkte ich ja genauso?
Nein,
ich war nicht wirklich traurig, sondern glücklich und stolz, hier angekommen zu
sein, stürmischem Wind und Regen getrotzt zu haben. Endlich konnte ich meine
unheimlich schmerzenden Schultern und Füße von Rucksack und Schuhen befreien,
mein nasses Cape ausziehen und eine heiße Suppe bestellen. Carol stellte mir
Steven aus Singapur und den rothaarigen Henry aus Halle vor. Von Steven war sie
total begeistert. So ein netter, zuvorkommender junger Mann! Die beiden
unterhielten sich in einem Englisch, bei dem ich kaum verstand, worum es ging,
was ich aber nicht zugeben wollte. So löffelte ich ruhig meine Suppe,
beobachtete die anderen Menschen und spürte auf einmal, wie Stolz und Wärme
gleichzeitig in mir aufstiegen!
Nur
wer solche Anstrengungen schon einmal hinter sich gebracht hat, kann
nachfühlen, wie wunderbar entspannend es ist, wenn die Schmerzen nachlassen,
die Kälte der Wärme weicht und ein wohliges Kribbeln von den Beinen beginnend
sich in jedem einzelnen Körperteil ausbreitet...
Wir
gönnten uns eine reichliche Stunde Rast, in der unsere Sachen langsam
trockneten, und erhielten nebenbei so manchen wohlgemeinten Rat. Ich hatte mir
vorgenommen, heute die Hälfte der Strecke nach Santiago zu überschreiten, und das bedeutete
noch neun Kilometer bis Terradillos de Templarios. Carol wollte mich gern
begleiten. Ich hatte ihr erzählt, dass ich eigentlich am liebsten allein laufen
würde, und so einigten wir uns darauf, zwar zusammenzubleiben, aber so, dass
jeder sein Tempo selbst bestimmen konnte. Außerdem wollten wir uns immer
ehrlich sagen, wenn wir lieber ganz allein sein wollten. Am späten Nachmittag
trafen wir in trauter Zweisamkeit an unserem selbst gewählten Ziel ein. Das
kleine, uralte Dorf sollte mitsamt
Weitere Kostenlose Bücher