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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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Teebeuteln und Suppenpulver. Sogar ein
Feldblumenstrauß stand daneben und ein Holzbrett mit guten Wünschen für den
Pilger und seinen Weg. Leider konnte ich den Text nicht genau übersetzen, aber
man spürte ja, was der Spender sagen wollte. Es war ein ergreifendes Gefühl,
ähnlich dem in der Kirche von Carrión de los Condes, ein Gefühl der
Zusammengehörigkeit, des herzlichen Willkommens und der Dankbarkeit.
    Auf
diesem Weg erlebte man wirklich eine Vielfalt und Intensität der Gefühle, wie
ich sie so komprimiert wohl niemals vorher erlebt hatte und wahrscheinlich auch
später kaum erleben würde.
    Ich
nahm mir etwas Obst und legte einen Euro in die Spendenkasse. „Danke, lieber
unbekannter Pilgerfreund!“ Hier wollte jemand eindeutig kein Geschäft machen,
sondern einfach nur Freude bereiten. Ich stellte mir vor, dass dieser
Unbekannte selbst schon als Pilger unterwegs gewesen war oder dass es
vielleicht sein größter Traum war, einmal diesen Weg zu gehen...
    An
diesem ersten Tag, an dem schon mehr Kilometer hinter mir lagen als vor mir,
fühlte ich mich trotz der Kälte besonders privilegiert, das alles erleben zu
dürfen. Immer noch brachte jeder Tag Überraschungen wie kleine Geschenke,
erfüllten mich an jedem Abend Dankbarkeit und Zufriedenheit. Obwohl mir immer
noch keine Flügel gewachsen waren, die das Laufen zu einer Leichtigkeit machen
sollten, wusste ich nun tief in meinem Inneren, dass ich es schaffen würde, und
zwar alles, was ich mir vorgenommen hatte!
    Den
schlimmsten Teil der Meseta hatte ich bereits hinter
mir gelassen, ebenso wie die Pyrenäen und die Städte Pamplona, Logroño und
Burgos. Vor mir lagen León und zwei Gebirge von über tausend Metern, aber auch
Galicien und Santiago de Compostela! Mein Sohn Martin hatte gesagt: „Galicien
wird dir gefallen, Mama!“, und da er mich ganz gut kannte, freute ich mich
schon darauf.
    Überhaupt
empfand ich das als eine Besonderheit auf dem Jakobsweg; man freute sich auf
jeden neuen Tag! Man war neugierig und offen wie ein kleines Kind! Und man
spürte keine Angst! Es gab ja anscheinend immer jemanden, der einen beschützte
und führte! Was für ein wundervolles Gefühl! Wenn ich davon nur recht viel in
mein normales Leben mitnehmen könnte! Wie oft wünschte man sich, unbeschwert
wie ein Kind sein zu können, ein Kind, das voller Vertrauen in die Welt und auf
die Menschen schaut, weil es noch keine negativen Erfahrungen gemacht hat. Am
meisten liebe ich an meinem Beruf das Lächeln der Kinder. In jedem von uns lebt
ja auch das Kind, das wir einmal waren, aber wir geben ihm keinen Raum. Wir
trauen uns kaum, offen und ehrlich zu sein, Gefühle zu zeigen, weil wir nicht
mehr enttäuscht werden wollen...
    Und
wenn wir dann doch einmal unvorsichtigerweise zu viele Gefühle zugelassen
haben, versuchen wir, sie so schnell wie möglich zu verdrängen. Es könnte ja
Schwierigkeiten geben! Manchmal opfert man lieber sein Glück dafür oder sogar
einen anderen Menschen...
    Für
mich stellte es eines der größten Probleme dar, mit Enttäuschungen fertig zu
werden. Warum musste ich ihnen nur so viel Raum in mir geben? Oder hatte ich
einfach nur übersteigerte Erwartungen? Fühlte ich mich auf diesem Weg deshalb
so glücklich, weil ich keine Erwartungen hatte?! Ja, vielleicht war das der
Schlüssel, dass ich hier selbst Kleinigkeiten als Geschenk sehen konnte, weil
ich sie nicht erwartet hatte. Es erschien mir logisch, aber warum war das im
normalen Leben so schwer?
    Ich
hatte mal gelesen, dass „man alle Bedürfnisse loslassen muss, um glücklich zu
sein.“ Im Buddhismus sagt man sogar, dass das Begehren die Wurzel allen Übels
sei. Wahrscheinlich besteht die Gefahr darin, dass es dann keine Grenzen mehr
gibt, sondern das Begehren wie eine Spirale ohne Ende ist. Ein gutes Beispiel
dafür kann man in dem Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ erkennen, wo das
wachsende materielle Begehren der Frau schließlich zum totalen Untergang führt.
Ich dachte mir, dass Überfluss nicht automatisch Glück bedeutet, aber Entsagung
auch nicht.
    Viel
komplizierter ist es mit den Erwartungen im zwischenmenschlichen Bereich, mit
den Erwartungen in das Verhalten der anderen Menschen. Oft merken wir gar
nicht, dass wir nur enttäuscht sind, weil die anderen sich nicht so verhalten,
wie es in unserem Drehbuch für sie steht, das wir schon vorher geschrieben
haben. Wir merken gar nicht, dass wir mit unseren
    Wünschen
um das Verhalten des anderen ihm gleichzeitig die

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