Das Leben in 38 Tagen
Großmutter bis
zum kleinsten Enkelchen das gleiche dunkelblaue
T-Shirt trugen, was den Zusammenhalt der Familie darstellen sollte.
Den
Camino lief die Kanadierin wohl hauptsächlich aus religiösen Gründen. So trug
sie zum Beispiel ständig einen Reiseführer bei sich, der mindestens dreimal so
groß und auch dreimal so dick und so schwer wie meiner war. Dadurch bot er
natürlich viel mehr interessante Informationen, aber er enthielt außerdem noch
zu jedem Ort auf dem Weg einen Abschnitt mit spirituellen Gedanken und
Gebetsanregungen. Carol nahm das alles sehr ernst. Was für mich die Natur auf
dem Weg bedeutete, gab ihr der Aufenthalt in den vielen Kirchen und Klöstern.
Außerdem hatte sie ein Buch mit Gedichten eines mir unbekannten amerikanischen
Autors dabei, in dem sie öfter las. Ich glaube, dass wir uns gegenseitig gut
akzeptierten und ergänzten.
An
diesem Abend konnten wir nun endlich auf die Hälfte der Strecke anstoßen!
Bergfest! 415 Kilometer hatten wir laut unserem Reiseführer von
St.-Jean-Pied-de-Port bis hierher zurückgelegt! Wir fühlten uns so glücklich
und dankbar, dass ich am liebsten bis Mitternacht in dem gemütlichen
Kaminzimmer sitzen geblieben wäre. Gerade heute spürte ich zwar meine Beine
ganz besonders, aber die restliche Strecke war nun überschaubar und — wenn
nichts Unvorhergesehenes passieren würde — auch erlaufbar !
Juhu!!!
Bisher
hatte ich mir ja immer noch die Option mit dem Busfahren offen gehalten, aber
wenn ich es ohne Fahren schaffen würde, wäre das natürlich eine Superleistung
für mich und meine problematischen „ Hallux - valgus -Füße“.
Als
gegen 22.00 Uhr die meisten Pilger schon im Dunkeln in ihren Betten lagen, saß
ich noch im Flur auf einer alten Couch und stellte mir einen Plan für die
restlichen Tage auf. Das Licht musste ich zwar wegen der Stromsparautomatik
alle zwei Minuten wieder anschalten und das Schnarchkonzert ging auch schon los, aber beides hielt mich nicht von meinem Vorhaben ab.
Also
noch mal nachdenken: Ich war nun zwanzig Tage unterwegs und hatte
durchschnittlich etwas über zwanzig Kilometer pro Tag zurückgelegt. Mir blieben
noch achtzehn Tage für die restlichen 415 Kilometer. Das bedeutete, dass ich ab
morgen täglich knapp 23 Kilometer laufen musste. Das war eindeutig machbar. Nun
musste ich mir nur noch die entsprechenden Abschnitte auf der Karte
heraussuchen und anzeichnen, damit es mit den Übernachtungen übereinstimmte.
Und es klappte! Nach diesem Plan hätte ich am 17. Mai noch 25 Kilometer bis
Santiago vor mir und das konnte ich gut auf zwei Tage aufteilen. Dann könnte
ich am 18. Mai vormittags in Santiago einmarschieren, so wie ich mir das in
meiner Phantasie vorgestellt hatte, und wäre pünktlich um 12.00 Uhr zur
Pilgermesse in der Kathedrale!
Ich
malte mir aus, wie es sein würde, natürlich bei Sonnenschein am Monte do Gozo,
dem Berg der Freude, zu stehen, zum ersten Mal mein Ziel Santiago zu sehen und
dann langsam darauf zuzugehen. Nicht umsonst hatten die früheren Pilger dem
Berg so einen Namen gegeben. Es musste ein herrliches, unvergleichliches Gefühl
sein, nach so vielen Strapazen dort anzukommen. Schon bei dem Gedanken daran
fühlte ich mich glücklich. Und mit diesem wunderbaren Gefühl der Vorfreude
schlüpfte ich leise in meinen Schlafsack und schlief ein.
Der
erste Mai 2007 empfing uns mit eisiger Kälte. Deshalb also gestern der
stürmische Wind!
Nach
einem kleinen Frühstück in der netten Herberge ging es am frühen Morgen wieder
hinaus in die Ebene. Leichter Nebel bedeckte die Felder und ich musste mir vor
Kälte die Kapuze über die Ohren ziehen. Die Luft roch nach Schnee und wir
konnten später von anderen Pilgern hören, dass es in Burgos wirklich geschneit
hatte! Ich versuchte die Hände mangels Handschuhen abwechselnd in die Taschen
zu stecken, da ich ja meine Stöcke noch tragen musste. Na, wenigstens regnete
es nicht mehr und ich legte einen Schritt zu, um durch schnelles Laufen warm zu
werden.
Plötzlich
glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen! Inmitten der Felder, in einer
kleinen Senke, durch die sich ein Bach schlängelte, tauchte ein „Tischlein deck
dich“ auf. Hin Märchen mitten auf dem Camino?
Beim
Näherkommen sah ich, dass anscheinend liebevolle Unbekannte eine kleine Bar für
die Pilger aufgebaut hatten. Da gab es einen Korb mit Orangen, Äpfeln und
Bananen, eine Schale mit verschiedenen Müsliriegeln sowie Thermoskannen mit
heißem Wasser und dazugehörigen
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