Das Leben ist eine Oeko-Baustelle
Standards diskutieren wollen, müs sen wir solche Spiegelfechtereien bleiben lassen.« Das meint sowohl »den« Chinesen als auch »den« Hartz-IV-Empfänger.
Was ist mit der ästhetischen Abwehr eines Veränderungsprozesses, also der Sorge, dass eine Welt mit Windrädern, Solardächern und Energiesparlampen furchtbar aussehe und furchtbar sei?
»Strukturell erfüllt das dieselbe Funktion wie der Chinese und der Hartz-IV-Empfänger«, sagt Welzer. »So etwas wird nur dann gefragt, wenn es um Veränderung geht, aber nicht beim Status quo. Keiner fragt, ob ich heute durch den Lärm der Sechs-Uhr-Maschine aufwachen will. Oder eine vierspurige Straße vor dem Haus haben. Oder diese ästhetisch grausamen Lidl- und Aldi-Buden.«
Es fragte viele Jahrzehnte auch keiner, ob man ein Atomkraftwerk vor der Tür wollte.
Ich sage: »Ein weiteres Argument ist, dass man für die individuelle Ökobewegung neben Geld auch Bildung braucht.«
»Auch da widerspreche ich vehement«, sagt Welzer. »Ich habe viele Bekannte, die ein extrem hohes Bildungsniveau haben, aber nicht das geringste Bewusstsein vom Klimawandel. Und ich kenne alleinerziehende Mütter ohne Geld, die sich viele Gedanken machen, was sie ihren Kindern zu essen geben.«
Welzer erzählt, dass auch er bei Vorträgen gern gefragt werde, ob der Konsum ökologischer Produkte sich nicht nur »auf dem Rücken von Hartz-IV-Empfängern oder in vollkommener Igno ranz sozialer Probleme« vollziehe. Er pflege dann zu antworten: »Haben Sie bei Ihrem letzten Autokauf an den Hartz-IV-Empfänger gedacht?« Dann werde der Frager ein bisschen rot, und die Frage sei erledigt. Es stimmt: Kein Mensch würde den Kauf eines Nobelautos im Zusammenhang mit Wenigverdienern dis kutieren. Aber bei einem viel günstigeren klimafreundlichen Hybrid heißt es, dass man ihn sich leisten können müsse.
Ein weiterer Vorwurf lautet, und den höre ich auch öfter: Weil nur noch über Öko geredet wird, redet keiner mehr über soziale Ungerechtigkeit.
»Der Fehler besteht darin, dass ökologische und soziale Un gleichheitslagen nicht in einem Zusammenhang diskutiert werden«, sagt Welzer. »Wenn man das macht, hat man eine ganz andere Diskussion: Wie verbessert man Lebensbedingungen – und da ist der Hartz-IV-Empfänger plötzlich erkennbar drin.«
»Was heißt das konkret?«
Welzer grinst: »Wenn wir die Autobahnen abschaffen, müssen die sozial Schwachen nicht mehr an der Autobahn wohnen.«
Autobahnen abschaffen? »Der Anspruch an unsere Gesellschaft ist doch, hochmobil und flexibel zu sein.«
»Das ist nicht gottgegeben. Diese Welt wird in ein paar Jahrzehnten sowieso nicht mehr so aussehen wie heute. Ob gewollt oder ungewollt: Wir werden weniger Mobilität haben. Diese Form der globalen Warenströme und Bewegungen wird es in der Zukunft nicht mehr geben. Das sehe ich wie Anders Levermann: Das System wird vorher zusammenbrechen. Wir sind jetzt in der Situation, wo wir entweder versuchen können, andere Zukünfte zu denken und den Prozess damit proaktiv zu gestalten – oder das ganze Ding implodiert. In beiden Fällen gibt es weniger Mobilität.«
Was ich aus Welzers Schriften kenne, erlebe ich nun direkt: Es geht ihm nicht darum, jede Argumentation zu widerlegen. Es geht ihm darum, die richtige Perspektive und die richtigen neuen Fragen zu finden.
»Der Grundfehler dieser Art Klimadiskussion liegt darin, nicht über das Problem im Gegebenen zu sprechen. Veränderung wird immer mit Verzicht gleichgesetzt und damit wird das Gegebene automatisch als etwas Gutes betrachtet. Es ist aber nichts Gutes. Gerade auch die soziale Ungleichheit ist in den letzten zwanzig Jahren gewachsen und nicht gesunken.«
Die Frage, ob Öko nur etwas für Reiche sei, ist für ihn eine von vielen »Argumentationsfallen«. Das zentrale Thema für ihn ist nicht, ob künftig nur noch Reiche fliegen, und noch nicht einmal, was aus den Arbeitsplätzen der Autoindustrie wird, wenn wir künftiger weniger Autos bauen. Sondern: »Wir stehen vor einem gigantischen Problem: Sicherung der Überlebensbedingungen der Menschheit. Wer das thematisiert und versucht, Handlungsräume zu schaffen, an den muss man weder den Anspruch stellen, dass er alle Probleme auf einmal löst. Noch muss er selbst diesen Anspruch haben.«
»Gut, aber lassen Sie uns überlegen, was es heißt, wenn wir weniger Autos bauen und haben.«
»Weniger Autoverkehr heißt weniger Schadstoffemissionen, weniger Lärm, weniger Gefährdung für die Leute, die
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