Das Leben ist eine Oeko-Baustelle
in schlechten Vierteln wohnen«, sagt Welzer.
»Und wo kommen die neuen Arbeitsplätze her, wenn die Automobilindustrie kleiner wird?«
»Wir kennen die Arbeitsplätze der Zukunft nicht. Warum können wir uns keine Mobilitätsperspektiven vorstellen, die beide Probleme im selben Frame bearbeiten?«
Ich sage: »Weil wir damit außerhalb unseres Wirtschaftssystems sind? Und weil eskeine Alternatividee mehr zum Kapitalismus gibt.«
»Da würde ich zustimmen«, sagt Welzer. »Wir haben keine gesamtgesellschaftliche Alternative vor Augen. Das ist auch ganz schön, weil die sozialistischen Menschheitsbeglückungsversuche alle gegen die Wand gefahren sind. Aber das ist auch das stärkste Argument der Gegner von Veränderung, dass es keine Alternative gibt. Und das stimmt eben nicht, weil wir gerade in einem Land mit so hohem materiellem Reichtum auf individueller Ebene, auf Gruppenebene und auf wirtschaftlicher Ebene Alternativen herstellen können.«
Welzer sieht eine Ursache für das Beharren auf dem Status quo, dass die deutsche Gesellschaft nach der »Epochenschwelle von 1989« sehr unpolitisch geworden sei, auch weil das Modell Konsum- und Wachstumsgesellschaft nach dem Ende des Sozialismus absolut dominant wurde.
Ich erwähne den grünen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann, der zum Amtsantritt den Satz sagte: »Weniger Autos sind besser als mehr«, und dass die Zu kunft Mobilitätskonzepte seien. Ein Aufschrei! Selbst und gerade beim Koalitionspartner SPD. Warum?
»Vielleicht, weil die Leute nur Plan A kennen und keine Ahnung haben, was Plan B sein könnte, geschweige denn Plan C.«
Plan A heißt: wirtschaften und alles andere genau wie bisher. Ich frage Welzer: »Wie kommen wir zu einem Plan B, einem Wirtschaftssystem ohne das bisherige Verständnis von Wachstum?«
»Es geht auf jeden Fall nicht, wenn man sagt: Wir haben das Gegenmodell zum Kapitalismus. Man muss die Frage formulieren: Worauf kommt es an?«
»Worauf kommt es an?«
»Es gibt viele Aspekte an Plan A, die zu zivilisatorischen Fortschritten geführt haben: vor allem das hohe Bildungs- und Ge sundheitsniveau und die Rechtstaatlichkeit. Das ist enorm wich tig und darauf will man nicht verzichten. Das hat aber nichts mit Wohlstand und Konsum zu tun, sondern mit gesellschaftlichem Reichtum. Es kommt darauf an, eine gesellschaftliche Praxis zu entwickeln, die diesen Fortschritt aufrechterhält und gleichzeitig die fatale Ressourcenübernutzung vermeidet oder erheblich reduziert.«
Verstehe: Man starrt nicht dauernd auf das, was heute ist, sondern schaut auf das, was man morgen wirklich braucht.
»Man kann also sagen: Wir wollen auch in Zukunft Gesundheit und Bildung, wir wollen kein Willkürstaat sein, wie können wir das realisieren? Braucht man dafür SUVs, braucht man dafür Billigflüge, braucht man dafür eine Autoindustrie, die so funktioniert wie die heutige, braucht man dafür eine planierte Welt? Die Antwort ist einfach: Nein. Was man braucht, ist eine dezentrale Energieversorgung mit entsprechenden Strukturen. Et cetera. Wenn man so rangeht, kommt man zu einzelnen Schritten. Und dann sucht man sich Labore zum Ausprobieren dieser Schritte.«
Ich muss an Boris Palmer und Tübingen denken, seinen Umbau der Energieversorgung, den neuen Stadtteil mit den Kiezstrukturen, der Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt und nicht nur von Autos. Ich erzähle Welzer, dass ich davon sehr an getan war und mir erst mal auffiel, was unserer Familie in Berlin alles abgeht.
Welzer nickt. »Eine Diskussion ist fehlgeleitet, in der es immer nur heißt: Wir müssen! Spannend wird es, wenn wir sagen: Wir haben gute Ideen und wollen sie diskutieren, weil wir – unabhängig vom Klimawandel – lieber ohne Autos leben wollen als mit. Die Sache bekommt ein Momentum, sobald durch Leute und Städte öffentlich sichtbar wird, dass es geht.«
Harald Welzer ist Jahrgang 1958, hat einen fast erwachsenen Sohn und ist von seiner Erscheinung her das glatte Gegenteil von dem, was man sich früher unter einem Öko vorgestellt hätte. Er ist braun gebrannt, scheint einen Schlag ins Hedonistische zu haben, ist witzig und sprüht vor Lebenslust. Zumindest ist das der Eindruck, den er an diesem Tag macht.
Und er ist auch kein Öko. Oder er ist ein weiterer Beleg, dass man »Öko« im 21. Jahrhundert anders definieren muss. »Man muss nicht zum Mönch werden, und wir leben auch nicht in Verhältnissen, in denen das sinnvoll wäre«, sagt er. »Wir
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