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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dem richtigen Weg war. Oben erwartete mich eine erstaunlich große Menschenmenge: Tausende, glaube ich, vielleicht zehntausend standen auf dem Platz zu Füßen blassgelber Gebäude, die aussahen wie mit Zuckerguss überzogen. Rote Fahnen flatterten über einer Masse brauner Mäntel, so wollig, dicht und dunkel wie eine Armee wütender Otter. Es gab verschiedene Banner mit kantigen kyrillischen Schriftzügen – Ultranationalisten schienen dabei zu sein, radikale Linke, Trotzkisten. Treue Anhänger des Kommunismus gab es auch, mit all ihrer krankhaften Nostalgie. Jemand reichte mir ein Fähnchen, und ich schwenkte es ein wenig. Irgendwo hinter mir hörte ich leise ein paar Worte in amerikanischem Englisch, doch als ich mich umdrehte – mit vor idiotischer Begeisterung, einen Landsmann zu treffen, überquellendem Blick vermutlich –, verstummten sie, und es blieb ein Rätsel, wer sie gesprochen hatte. Ich sah mich um, konnte aber Viktor nirgends entdecken.
    Auf einem Podest mitten in der Menge stand Alexander Besetow. Ich hatte Bilder von ihm gesehen, denen er auch ähnlich sah. Daher weiß ich nicht, was mich an ihm so überraschte. Vielleichthatte ich mir vorgestellt, er hätte eine Art Aura – das jenseitige Erkennungsmal eines Menschen, der eine unerklärliche Verbindung zur Zukunft oder zu den Toten unterhält. Stattdessen sah er normaler aus als normal; er war kleiner, als ich erwartet hatte – mir fiel auf, wie viele Porträtaufnahmen es von ihm gab –, und seine Nase war unschön gerötet. Beim Sprechen stieß er schneeweiße Dampfwölkchen aus.
    »Meine Freunde«, rief er. Die wimmelnde Menschenmenge richtete sich bei dieser vielversprechend familiären Anrede erwartungsvoll auf. »Wir haben keine Chance zu gewinnen.« Zu meiner Überraschung brach die Menge in Jubel aus.
    Ich spähte durch den winterlichen Nebel, die wabernden Massen, die bunten Fahnen, die knatterten wie Pistolenschüsse. Ich verglich diesen Mann mit dem, den ich vor so vielen Jahren mit meinem Vater im Fernsehen gesehen hatte. Dieser Besetow wirkte kompakt und solide, während er während des Turniers dünn gewesen war, mit höckerigen, knackenden Fingerknöcheln. Aber die schweren Augenlider waren gleich geblieben, die fleischige Nase, wie eine aussortierte Kartoffel. Der Mund, der für die Härten des Wettkampfs zu träge und unartikuliert aussah.
    »Es bringt gar nichts, so zu tun, als hätten wir eine Chance auf den Sieg«, sagte er. »Das wäre eine Lüge. Wir sind nicht angetreten, um zu siegen.« Die Menge jubelte lauter – die rotwangigen, blassstirnigen jungen Frauen mit ihrem unglaublich kantigen, knochigen Körperbau, die mattgesichtigen Männer, die wohl alternde, unbedeutende Dissidenten sein mussten. Den Horizont säumte ein Streifen Polizisten, grimmig, breitschultrig und unübersehbar, obwohl Besetow für diese Veranstaltung sicher eine Genehmigung hatte.
    »Wir sind angetreten, um zu verlieren«, rief Besetow. »Und wir sind angetreten, um, während wir verlieren, bemerkt zu werden. Wir sind angetreten, damit man uns aufhält. Wir sind angetreten, damit man uns entgegentritt.« Die Menge wurde lauter und Besetows Stimme heiserer.
    »Wir sind angetreten, damit man uns unterdrückt«, schrie er.»Damit man uns systematisch ignoriert, uns totschweigt. Wir sind angetreten, damit man uns ermordet.« Wieder tobte die Menge. »Wir sind angetreten, damit man uns terrorisiert, ignoriert und tötet, und damit alle Welt es sieht. Wir sind angetreten, damit es eines Tages Aufzeichnungen gibt. Damit es Erinnerungen gibt.«
    Die Leute schrien und schwenkten ihre Fahnen. Eine Frau hinter mir stieß einen Triller aus, der mich zusammenfahren ließ. Die Menge trug eine oberflächliche Patina des Triumphgefühls, aber es gab auch Hinweise auf unterschwellige Raserei, als würden sie im nächsten Moment Heugabeln hervorholen und die Bastille stürmen. Neben mir hüpfte ein Kind auf der Stelle auf und ab. Ein Mann schwenkte eine Frau herum, und beide schrien zusammenhanglose Worte. Ein junger Mann stand allein da, zitterte und lächelte so heftig, dass ich dachte, er werde in Stücke brechen und über den Platz auseinanderschlittern. Ich zog ein Notizbuch hervor und tat, als sei ich voll darauf konzentriert. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass mir Ausbrüche aufrichtiger politischer Gefühle zutiefst unangenehm waren.
    Am Rand der Menge, unweit des Podiums, stand eine Frau, die Alexander zusah und gelangweilt wirkte. Sie war schmal und

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