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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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mir eine Visitenkarte zu, an der ich mir sofort den Finger schnitt.
    »Okay«, sagte ich. »Ich kann warten.« Warten war in letzter Zeit mein Spezialgebiet, meine größte Stärke. Ich war eine Meisterin, Profiligistin, eine Weltklasseathletin des Wartens, konkurrenzlos, ungeschlagen. Auf meine Wartefähigkeiten war Verlass.
    »Gut«, sagte sie. »Sie sind eine seltsame junge Frau.«
    Irgendetwas an ihren Worten – an dieser Urteilsverkündung einer quasi-feindseligen Europäerin – führte dazu, dass ich Lars so sehr vermisste, dass mir fast die Tränen kamen. Ich weine nicht oft – es ist für mich eine Beschäftigung, die ich in Betracht ziehen und dann doch wieder verwerfen kann, meistens, weil mir die Kraft dazu fehlt –, aber gelegentlich wurde ich in den merkwürdigsten Augenblicken von Emotionen überwältigt: auf Parkplätzen, in Supermärkten, wenn ältere Paare gemeinsam Obst auswählten oder ein kleines Kind nach dem Kleid seiner Mutter griff. Die Frau sah mich alarmiert an.
    »Ich weiß«, sagte ich. »Danke für Ihre Hilfe.«
    Sie schniefte und wandte sich ab, wofür ich dankbar war, denn der Anblick vor mir – die brodelnde Menge mit ihren winzigen Fahnen, ihren unverständlichen Rufen und ihrer enormen Wut – begann zu verschwimmen, und ich wollte keine Zuschauer bei meinem Versuch, dort hindurchzugehen.
    Ich wählte den weiteren Weg zurück – über das Schlossufer, an der Kanone der Peter-und-Paul-Festung vorbei, bis ich die bucklige Krone der Sphinx als unförmigen Schatten in der Ferne sah, dann über die Dworzowy Most zu meiner Insel zurück. Mein Kopf füllte sich mit Kriegen und Revolutionen. Ich dachte an den Überfall auf Nikolaus II. – das mörderische Kratzen an den Palasttüren, die Schüsse, die den Männern das Brustbein durchschlugen, die Frauen, die zusammenbrachen und in ihre Taftkleider weinten. Ich dachte an Stalins Säuberungsaktionen – die zitternden, rotgesichtigen Intellektuellen, die weinten oder ihre Peiniger anspuckten. Ich dachte an die Juden, die in den Achtzigern Schlange standen, um ihre Ausreisevisa zu bekommen, die sich nach der trostlosenLandschaft umdrehten, die einmal ihre Heimat gewesen war; ich dachte an Jelzin auf dem Panzer, wie er einen Militärputsch niederschrie; ich dachte an die Geiselnahme von Beslan, den Terrorismus, die Vabanquespiele, die Bluffs des letzten Jahrzehnts. Und dann dachte ich an Alexanders Kundgebung, daran, wie sich tausend Köpfe drehten, wenn er in eine Richtung wies, und wie tausend Rufe antworteten, wenn er sprach.
    Ich ging nach Hause, nickte dem Rezeptionisten mit den eisigen Augen zu und setzte mich auf mein Bett. Ich sah zu, wie die kühlen Sterne in der herabsinkenden Dunkelheit deutlicher hervortraten. Im Laufe der Wochen hatte ich in meiner Unterkunft ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl entwickelt: Mein Handtuch mit den einst knallblauen, jetzt grau verblassten Fischen hatte seinen Stammplatz im Gemeinschaftsbadezimmer; meine salzverkrusteten Stiefel standen im Flur vor der Zimmertür wie Spuren einer Gräueltat. Ich hatte so oft den Boden angestarrt, dass ich begonnen hatte, aus den Flecken eine absurde Topographie herauszulesen: Neben dem Nachttisch gab es einen indischen Subkontinent; am Fenster war ein ganzes Afrika, komplett mit Madagaskar.
    Ich musste an die Weltkarte meines Vaters mit der gelblichen Sowjetunion denken, daran, wie ich jetzt mitten in dieser gewaltigen Masse war. Es war, als wäre ich auf den Schreibtisch meines Vaters geklettert, hätte seine Papiere beiseitegeschoben, seine Souvenirs durcheinandergebracht und wäre in die Karte hineingekrochen. Es war, als wäre ich durch den Fernsehbildschirm auf die andere Seite gezogen worden: ein Ort, wo die Zeit die Welt im ewigen Zustand potentieller Energie festhielt, wo das statische Rauschen die Luft in Stücke zerbrach und alles schachbrettfarben war.
    Alexanders Wohnung war sonnig und weitläufig und mit derselben leicht schrägen Geschmackssicherheit eingerichtet wie ein Museum für Moderne Kunst. Im Salon stand ein schwarz-weißes Sofa, und die komplizierten Akkorde einer Klaviersonate – dissonant und in Moll – rieselten leise von irgendwo über meinem Kopfherab. Makellos gekleidete Frauen und etwas nachlässigere Männer gingen sehr zielstrebig in der eigentlichen Wohnung ein und aus. Wenn die Tür aufging, konnte ich einen Flachbildfernseher sehen, auf dem ohne Ton ein staatlicher Nachrichtensender lief, und eine Espressomaschine kreischen

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