Das Leben ist groß
leicht und hatte mit ihrer effizienten Art die Ausstrahlung eines Fensterbriefumschlags. Sie sah zu gleichgültig aus, um eine Ansprechperson zu sein, und zu funktional, um nicht dazuzugehören. Sie hatte rotes Haar. Das war Nina. Ich schob mich in ihre Richtung – eine meiner Zehen wurde von einem verblüffend schweren Kind gequetscht, eine meiner Brüste von einem alten Mann begrapscht, der in die Luft starrte, als ich mich umdrehte. Als ich die Frau erreichte, betrachtete sie erst alles um mich herum – das schneidende Sonnenlicht, den festgestampften Schnee, die Horden junger Männer, die johlend mit Eissplittern warfen –, ehe ich ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken konnte.
»Entschuldigung«, sagte ich und wedelte mit der Hand.
»Ja?«, sagte sie. Sie klang überrascht, ganz so, als hätte sie mich tatsächlich gerade erst bemerkt.
»Ich heiße Irina Ellison«, sagte ich. »Ich wollte fragen, ob ich einen Termin mit Herrn Besetow haben könnte.«
Sie sah mich ungeniert von oben bis unten an, als wollte sie meine physische Fitness ermitteln und sei mit dem Ergebnis unzufrieden. »Und wer sind Sie, Irina Ellison?«
»Niemand«, erklärte ich eifrig. Ninas Blick trübte sich. »Ich bin eine amerikanische Dozentin«, verbesserte ich mich. »An der Universität.«
Sie schwieg. Winzige Furchen gruben sich in ihre Mundwinkel. Sie sah aus, als saugte sie sehr fest an etwas Bitterem. »Ist das alles?«
»Das ist alles.« Ich wusste nicht genau, was sie meinte, aber ich wusste, dass das ganz sicher alles war. »Denken Sie, ich könnte einen Termin bekommen?«
»Eher nicht. Er ist sehr beschäftigt.«
Nina begann sich abzuwenden; die Fehlzündung eines Motorrads lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ich hätte Recherchearbeiten vorschützen sollen, fiel mir ein, irgendeinen akademischen Vorwand für mein Anliegen. Vielleicht hätte es dafür mehr Verständnis gegeben.
»Bitte«, sagte ich. »Mein Vater und Mr. Besetow waren Briefpartner.«
»Dann lassen Sie Ihren Vater ein Treffen vereinbaren.«
»Er ist schon tot«, sagte ich. »Mein Vater.« Normalerweise sage ich aus Rücksicht auf meine Gesprächspartner immer »von uns gegangen«. Nicht, weil ich fände, »von uns gegangen« sei der passende Ausdruck – wohin gegangen?, fragt man sich, von wem gegangen? Sondern ich sage es, weil »tot« so konfrontativ klingt, so ordinär. Aber im Russischen kannte ich kein anderes Wort.
Nina wandte mir ihren schiefgelegten Kopf zu, aber ich konnte nicht erkennen, wo sie hinsah. »Tut mir leid«, sagte sie. Falls in ihrem Tonfall so etwas wie Mitleid lag, konnte ich es nicht hören. »Aber Alexander hat mit allen möglichen Leuten korrespondiert.«
Sie blickte sich nach einem breitschultrigen Mann mit Sonnenbrilleum, der ein paar Schritte entfernt stand. Er nickte leicht. Ich hatte Sorge, im nächsten Moment abgeführt zu werden.
»Könnten Sie ihn nicht einfach fragen?«, sagte ich. »Ich habe einen sehr weiten Weg hinter mir.«
Sie neigte wieder den Kopf, und plötzlich konnte ich mich selbst mit ihren Augen sehen: mit geröteter Nase, ungekämmtem Haar und wirrem Blick und mit jenem amerikanisch klingenden Russisch, das die Leute wechselweise als komisch, tragisch oder als Zeichen minderer Intelligenz auffassten.
»Wer ist Ihr Auftraggeber?«, fragte sie schließlich.
»Mein Auftraggeber?« Dasselbe hatte Nikolai auch wissen wollen, und ich fragte mich, ob es irgendeine Fehlübersetzung war, die immer wieder zu diesem Verständigungsproblem führte.
Die Frau presste die Lippen aufeinander, als hätte sie es mit der vorgetäuschten Blödheit eines unwilligen Schülers zu tun. »Für wen arbeiten Sie?«
»Für niemanden mehr.«
»Niemanden mehr ?«
»Ich habe an der Universität gearbeitet«, sagte ich, obwohl ich einen Moment lang unsicher war, ob das stimmte. »Das ist schon einige Zeit her.«
»Verstehe«, sagte sie und sah mich verständnislos an. »Dann sind Sie also als Touristin hier?«
»Könnte man sagen«, sagte ich. »Ja.«
Sie musterte mich angestrengt, dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielleicht geht es«, sagte sie. »Am Mittwoch hat er frei. Vielleicht hat er eine Viertelstunde Zeit für Sie. Sie werden natürlich nicht allein sein.«
»Natürlich nicht«, sagte ich, obwohl ich in dem Moment nicht sicher war, was sie damit meinte.
»Kommen Sie Mittwochvormittag zu dieser Adresse, dann sehen wir weiter. Okay? Sie werden warten müssen. Ich kann Ihnen nichts versprechen.« Sie steckte
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