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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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hören.
    Ich wurde von einem bulligen Leibwächter abgetastet, der sich unziemlich lange mit meiner Innennaht befasste. Dann durfte ich, wie Nina versprochen hatte, warten. Jedes Mal wenn die Tür geöffnet wurde, blickte ich erwartungsvoll auf und begegnete den misstrauischen Blicken der Besucher, die gerade gingen – ein ziegengesichtiger Mann mit dicken Brillengläsern, ein sehr junger Mann mit einem Klemmbrett, mehrere markige Kerle mit Headsets und grimmigen Gesichtern. Viktor ließ sich nicht blicken. Niemand rief mich auf. Niemand redete mit mir. Es erinnerte mich an die Arztbesuche damals am College, wo ich, mit Broschüren über Vitamine und Selbstmanagement und das »Leben mit Chorea Huntington« versorgt, ganze Äonen, ganze Epochen mit Warten verbrachte und den Schwestern nachsah, die gelegentlich mitfühlend zusammenzuckten.
    Irgendwann kam Nina. Zu dem Zeitpunkt schlief ich fast; alle dreißig Sekunden nickte mich mein Kopf unsanft wieder wach. Meinem ohnehin immer etwas missratenen Haar hatte die lange Wartezeit nicht gutgetan. Nina runzelte die Stirn. Sie trug diesmal eine beigefarbene Bluse mit kunstvoll gekräuseltem Kragen und einen orange getönten Lippenstift. Sie war blasser, als ich sie in Erinnerung hatte, und hatte ihr Haar zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Ihre Wangenknochen standen aus dem Gesicht hervor wie eine Kunstinstallation.
    »Sie sind immer noch da?«, fragte sie.
    »Scheint so.«
    »Also gut. Kommen Sie rein.«
    Sie führte mich einen Flur mit hohen Decken entlang. An den weißen Wänden hingen kleine Druckgraphiken von Ansichten aus Moskau und St. Petersburg in Rot- und Blautönen. Über mir wandsich die Newa in tintigem Kobaltblau; die Basiliuskathedrale erhob sich seltsam drohend über einen blutroten Horizont.
    »Eine schöne Wohnung«, sagte ich. Ich spürte, wie sie die Augen verdrehte, obwohl sie mir den Rücken zuwandte.
    »Herr Besetow hat ungefähr fünfzehn Minuten Zeit«, sagte Nina. »Ich habe ihm erklärt, eine seltsame Amerikanerin wolle ihn sprechen, und er schien interessiert zu sein. Ich gehe davon aus, dass Sie ihm Ihr Anliegen genauer erklären können. Er ist sehr beschäftigt.«
    »Natürlich«, sagte ich, und dann mündete der Flur in ein Zimmer. Es war so groß, dass es darin hallte; zarte Schnüre aus Sonnenlicht fielen in einer Ecke schräg durch ein verschneites Oberlicht, und in einer anderen kauerte ein kleiner Konzertflügel. In der Mitte des Raums saß Alexander Besetow an einem schwarzen Schreibtisch und tippte eilig auf einem Laptop.
    »Alexander«, sagte Nina. »Dein Besuch.«
    »Einen Moment«, sagte Alexander auf Russisch. Nina war schon wieder verschwunden. Er war legerer gekleidet als bei der Kundgebung und trug eine Nickelbrille, die westlich und ein klein wenig zaghaft aussah. Sein Gesicht, das bei seiner Rede energiegeladen, lebhaft ausgesehen hatte, mit buschigen Brauen, die hin- und hergingen, als hielte er Ausschau nach politischem Sprengstoff, wirkte jetzt leicht gelangweilt. Er befühlte mit der Zunge gedankenverloren seine Unterlippe. Seine Ärmel waren hochgekrempelt.
    Nach einer Weile sah er zu mir hoch und hob eine Augenbraue. Das war mein Stichwort.
    »Guten Tag«, sagte ich auf Russisch, und Alexander verzog das Gesicht.
    »Oh, bitte«, sagte er auf Englisch. »Ich spreche jetzt lange genug Russisch, dass mir das in den Ohren weh tut.«
    Sein Englisch war glatt und professionell und sehr artikuliert. Es erinnerte mich an Steine, die über eine Wasseroberfläche titschen.
    »Also«, sagte er. »Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich mich mit Ihnen treffe.«
    »Sicher«, sagte ich, obwohl das nicht stimmte. Ich hatte gehofft, dass er sich mit mir treffen würde, und war dankbar, dass er es tat. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Grund dafür etwas anderes sein könnte als wohlwollende Nachsicht und der Umstand, dass er zufällig gerade Zeit übrig hatte.
    »Tja«, sagte er. »Ich weiß, dass Ihnen das vermutlich gar nicht klar ist, aber Sie haben mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Sie können sich übrigens setzen.« Er wies auf einen zierlichen Stuhl ihm gegenüber. Während ich meinen Schal abwickelte und mich setzte, nahm er seine Schreibarbeit wieder auf.
    »Habe ich das?«, fragte ich.
    Er hörte auf zu tippen. »Ja.«
    Ich schwieg und wartete auf eine Erläuterung. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es geschafft haben könnte, Alexander Besetow in Schwierigkeiten zu bringen, wenn es mir nicht

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