Das Leben ist groß
einmal gelungen war, mir selbst Schwierigkeiten zu bereiten.
»Sie sind nicht zufällig von einem Nikolai Sergejewitsch angesprochen worden?«
In meinem Hinterkopf pingte es leise. »Doch.«
»Und hat er vielleicht versucht, Sie zu überzeugen, Sie und er hätten gemeinsame Interessen? Hat er behauptet, er sei mein Freund?«
Das Ping-Geräusch ging in ein misstönendes Vibrato über. Ich kam mir allmählich wie ein Idiot vor. »Es war ein bisschen verwirrend«, sagte ich.
»Das glaube ich gern.«
So hatte ich mir unsere Begegnung nicht vorgestellt. Ich wusste selbst nicht genau, was ich erwartet hatte, aber vermutlich hatte ich gedacht, Alexander wäre gütig und sanft und vielleicht ein ganz klein wenig professoral, würde geduldig meine Fragen beantworten, sich höflich nach meinen Wünschen erkundigen und mich dann milde, mit den allgemeingültigsten guten Wünschen für die Zukunft, wieder verabschieden. In meinen kühnsten Träumen wäre er tatsächlich in der Lage gewesen, mir ein paar Fragen zu beantworten,die meinen noch intakten Geist und mein Herz beschäftigten – er hätte irgendein tiefgründiges Geheimwissen über einen würdevollen Weg in den Untergang preisgegeben, und dieses Wissen hätte mir irgendwie die Vergangenheit oder die Zukunft erhellt. Jedenfalls hatte ich nicht damit gerechnet, ins Kreuzverhör genommen zu werden.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nur eine alte Freundin von Ihnen besucht, um an Ihre Kontaktdaten zu kommen. Ich wusste nicht, dass das irgendwelchen Ärger verursachen würde.«
Alexander seufzte müde, als hätte man ihn gebeten, Trainer eines Highschool-Schachteams zu werden. »Natürlich wussten Sie das nicht. Ich erkläre es Ihnen. Die russische Regierung vermutet, ich sei ein Strohmann des amerikanischen Geheimdienstes. Das haben sie von Anfang an geglaubt. Und da kommen Sie hierher und suchen nach mir und wirbeln jede Menge Staub auf, und das haben die natürlich mitbekommen. Sie glauben, dass Sie mich steuern oder es zumindest versuchen oder wie auch immer. Verstehen Sie?«
Er atmete schwer vor Anstrengung, höflich zu bleiben. Sarkasmus brach an die Oberfläche seiner Stimme durch wie eine lange zurückgehaltene unterirdische Substanz. »In Wirklichkeit werde ich, nur falls Sie sich das fragen, nicht von Ihrer CIA gelenkt. Aber wenn die CIA so etwas vorhätte, würde sie es sicher sehr viel subtiler anstellen, als Sie es sind.«
»Und wer ist Nikolai?«
»Er ist ein sehr angesehener Bürokrat unserer sehr legitimen Regierung.«
»Oh.« Ich begann zu verstehen. »Okay.«
Ein Schweigen folgte, und Alexander begann wieder zu tippen, und ich fragte mich, ob unser Gespräch irgendwie plötzlich beendet war. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich getan hatte, als Nikolai Wochen zuvor in dem Café aufgetaucht war. Hatte ich etwas Verdächtiges getan, etwas, das auf finstere, illegale Aktivitäten schließen ließ? Ich begriff einfach nicht, wie ich das fertiggebrachthaben sollte, ohne es selbst zu merken. In den letzten paar Wochen konnte ich mich überhaupt an so gut wie keine bedeutsamen Ereignisse erinnern – und die, die doch an die Oberfläche kamen, wenn ich danach tastete, waren eher klein und persönlich und merkwürdig sentimental: Einmal hatte ich aus meinem Zimmerfenster im Hostel zugesehen, wie der aufgewirbelte Schnee die Sterne verwischte, einmal bei der alten Frau Gebäck gekauft, die mir immer ein Bialy extra »für meine Kinder« mitgab, einmal war ich an der Newa entlanggelaufen, bis meine Haut gerötet war, bis mir die Augen tränten und mein Kopf sich mit einer Symphonie russischer Lyrik füllte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ich verstehe nicht, warum ich überhaupt irgendwem aufgefallen sein sollte. Ich tue doch gar nichts, außer in Cafés herumzusitzen und zu lesen.«
»Tja«, sagte er. »Die werden auch nicht so richtig klug aus Ihnen. Aber sie halten Sie für eine Beauftragte der amerikanischen Regierung, wenn auch eine unwissentliche.«
»Eine unwissentliche Beauftragte?« Jetzt war ich beleidigt.
Alexander musterte mich, und ich konnte sehen, wie er nacheinander meinen halboffenen Mantel, meinen schlechtsitzenden Pullover und die dünnen Haarsträhnen registrierte, die aus meiner Frisur ausbrachen wie politische Flüchtlinge.
»Ja«, sagte er.
Ich befühlte meinen Mantelsaum und sah zu Boden. Ich war sehr müde. In letzter Zeit war da diese bis ins Mark reichende Erschöpfung, in dunklen Wellen, die sich
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