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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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anfühlten, als rotierten meine Augen im Schädel herum. Ich wusste nicht, wie ich es deuten sollte oder ob ich mich überhaupt bemühen sollte, es zu deuten. Es war kein Vorbote der ersten Symptome – ich hatte genug Berichte gelesen, um das zu wissen –, aber vielleicht war es eine psychologische Vorbereitung darauf, und ich war beinahe dankbar dafür.
    »Das alles«, sagte er, »bereitet mir nur weitere Schwierigkeiten. Ihnen übrigens auch. Ihnen vielleicht sogar mehr als mir. Ich habe längst größere Sorgen.«
    »Ich auch«, sagte ich, ohne aufzublicken.
    Alexander schniefte. »Ich weiß, dass Sie nicht vorhatten, Ärger zu machen.«
    »Ich hatte ja keine Ahnung.«
    »Das glaube ich Ihnen ohne weiteres.« Er starrte mich an. Es sah aus, als hielte er seine Augen absichtlich weit offen und still, was auf dasselbe hinauslief, als hätte er sie verdreht. »Warum sind Sie dann hier«, fragte er, »wenn Sie nicht auf Ärger aus sind?«
    Eine gute Frage.
    »Erinnern Sie sich«, fragte ich behutsam, »an einen Brief, den Sie in den Achtzigern von einem amerikanischen Akademiker bekommen haben?«
    Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe in meinem Leben viele Briefe bekommen.«
    »Natürlich«, sagte ich schnell. »Ich weiß. Aber es war ein ziemlich seltsamer Brief.«
    »Wie seltsam?«
    »Er handelte nicht wirklich vom Schach. Es ging darin um die Frage, was man tun soll, wenn man weiß, dass man verlieren wird.«
    »Wenn man verliert?«
    »Ja.«
    »Bin ich hauptsächlich als Verlierer bekannt?«
    Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er arrogant sein könnte. Es hätte mich nicht verwundern sollen – er war der beste Schachspieler aller Zeiten. Der beste Hamsterdompteur aller Zeiten hatte vermutlich auch seinen Stolz. Aber irgendwie hatte ein Teil von mir gehofft, er würde sich bei meiner Frage aufrichten, in seine Jackentasche greifen und ein maschinengeschriebenes Manifest daraus hervorholen. Hier, bitte, würde er sagen. Ich habe Sie schon erwartet. Hier steht alles drin, was Sie wissen müssen.
    »Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht. Er wusste nur, dass es in Ihrer langen Karriere auch … Momente gegeben haben muss, in denen Sie wussten, dass Sie verlieren würden. Und er wollte wissen, wie Sie es dann schafften weiterzuspielen.«
    »Ich glaube nicht, dass ich auf so einen Brief geantwortet hätte«, sagte er. »Falls er überhaupt bei mir angekommen ist.«
    »Das haben Sie auch nicht«, sagte ich. »Deshalb bin ich hier.«
    Er sah mich lange an. Dann nahm er seine Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. »Wann ist Ihr Vater gestorben?«
    Ich sah ihn an.
    »Wenn er nicht tot wäre, wären Sie nicht hier, oder?« Es war eine herausfordernde Frage, aber er brachte es fertig, dabei freundlich zu klingen.
    »Im Februar«, sagte ich. »Aber davor war er schon sehr lange krank.«
    Besetow nickte. Er setzte seine Brille wieder auf. Ich bemühte mich, einen bewundernden Kommentar zu der modernen Kunst an den Wänden zu machen, aber mein Blick blieb an den dunkel gekleideten breitschultrigen Männern an der Tür hängen. »Sie haben ziemlich viele Sicherheitskräfte«, sagte ich.
    »Allerdings.« Er gestikulierte in ihre Richtung. »Sie kosten mich Zehntausende Dollar, und am Ende werden sie mir wahrscheinlich doch nichts nützen. Ich kann die Risiken minimieren, aber letztlich ist es alles vergeblich. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    »Das kenne ich«, sagte ich. Die Heizung begann zischende Geräusche von sich zu geben und verbreitete den Geruch von etwas Verkochtem im Raum. Alexander sah zum großen Panoramafester hinaus, obwohl es nicht viel zu sehen gab: Im spätnachmittäglichen Dunkel waren da nur die Spiegelungen seiner vergoldeten Lampenkugeln, des Flackerns auf seinem Computerbildschirm und die unangenehme Blässe meines Gesichts.
    »Sie haben gesagt, Sie hätten eine alte Freundin von mir getroffen«, sagte Alexander. »Wer war das?«
    »Elisabeta Nasarowna. Erinnern Sie sich an sie? Sie hat mit Ihnen zusammen gewohnt. Sie sagte, Sie wüssten es vielleicht nicht mehr.«
    Er schwieg und sah weiter aus dem Fenster. Ich bildete mir ein, dass seine Halsmuskeln sich ein klein wenig anspannten. Draußendurchdrang eine an- und abschwellende Brandung von Scheinwerferlichtern die Dunkelheit.
    »Das eine oder andere weiß ich noch von ihr.« Er ließ den Satz wirken; die Stille dämpfte ihn ein wenig. »Und, wie geht es ihr?«
    Ich dachte an ihr mörderisches Husten, an ihre Schultern, die

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