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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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jemand das Ruder übernahm. Es lag nur daran, dass sie so verängstigt waren – gefangen im eisernen Würgegriff des Terrors, im metallischen Geruch des Todes (wobei Mischa, der öfter als die meisten dem Sterben nahegekommen war, sagte, der Geruch des Todes erinnere eher an Sassafras).
    Alexander kannte diese Angst. Er hatte sie damals gekannt, als rotznäsiger Schachidiot, der mit klappernden Zähnen und einem breiten, dummen Grinsen vor seinen Aufpassern stand und zu dem Gott, an den er nicht glaubte, betete, er möge nicht so werden wie Iwan (weniger mutig, meinte er damit, und weniger tot). Und er kannte die Angst jetzt, als Erwachsener, der schmerzhafte erwachsene Entscheidungen traf und schmerzhafte erwachsene Risiken einging. Es war eine machtvolle Angst.
    Das wusste Putin natürlich auch. Alexander fragte sich oft, ob nicht etwas von derselben primitiven Todesangst in Putin steckte, hinter seiner glatten Fassade und seinem reptilienhaften Lächeln. Sicher lag der Mann nachts in seinem seidenen Bett und wusste, dass er sich den Platz an der Spitze des größten Landes der Erde mit Lüge und Betrug, Unterdrückung und Mord erobert hatte, und dass dieses Land ihm im Nacken saß, wenn er sich beim Einschlafengen Sonnenuntergang wandte – und sicher wachte er manchmal morgens auf und erstickte fast an dem Geruch von Sassafras.
    Alles in allem hatte es aber funktioniert. Putin hatte das Land gewonnen. Selbstzufrieden, mit diesem säuerlichen halben Lächeln, hatte er das Vertrauen der Nation und das demokratische Mandat an sich gerissen. Es war schon merkwürdig. Diese Terroristen, diese Anschläge. Diese Tschetschenen, die von so weit her angereist waren. Nett von ihnen, Putin kurz vor der Wahl so einen Gefallen zu tun. Merkwürdig war es schon.
    Also wollte Alexander einen Film produzieren, in dem gewisse Erkenntnisse, gewisse Fragen des Volkes zur Sprache gebracht wurden. Zuerst hatte er einen Artikel darüber schreiben wollen, aber Boris und Viktor – seine postpubertären, aber bestialisch intelligenten Berater – hatten nur gelangweilt vor sich hin gestarrt, als er ihnen die Idee vorstellte. Sie hatten kürzlich eine Dokumentation über die Vorgeschichte des elften September gesehen, hatten sie gesagt. Ein verlotterter amerikanischer Filmemacher interviewte darin mit zu Tode betrübtem Gesicht Politiker und Passanten. Er war höflich. Er stellte liberal gesinnte Fragen. Er schaffte es irgendwie, die anderen als Idioten dastehen zu lassen.
    »So was sollten wir machen«, sagte Viktor. »Was Zugängliches.«
    »Du weißt aber, dass der Mann Sozialist ist, oder?«, sagte Alexander.
    »Er macht effiziente Filme.«
    »Er macht Filmmontagen. Er schneidet Schnipsel von schrecklichen historischen Ereignissen zu Popmusik zusammen. Das sind Musikvideos.«
    »Das ist das, was die Leute sehen wollen. Diese Filme ändern die öffentliche Meinung«, sagte Boris.
    »Bushs zweite Amtszeit hat der Film nicht gerade verhindert.«
    Viktor hatte ihn angesehen und das Einzige gesagt, das Alexander hätte überzeugen können: »Wann war je ernsthaft die Rede davon, Putin zu verhindern? Oder wen auch immer er als Nächsten ernennt? Ich sage bloß, der Film wird ihnen unangenehm sein.«
    Seit mehreren Monaten arbeiteten sie jetzt an diesem Film, und Alexander konnte nicht umhin zu denken: Wenn irgendetwas ihn das Leben kosten würde, dann das. Aber er erwartete nicht, dass der Film magische Wirkung entfalten würde. Er erwartete nicht, dass nur dieser Film veröffentlich werden müsste, und dann kämen die Dezentralisierung, das Ende der Zensur, der Zusammenbruch des gegenwärtigen Regimes oder freie und faire Wahlen von allein. Alles, was er sich erhoffen konnte, war, dass ein paar Leute den Film auf YouTube sahen und dass er der Regierung, wie Viktor sagte, unangenehm war. Unabhängige Fernsehsender wären etwas ganz anderes. Nur ein Monat unabhängiges Fernsehen, und es gäbe einen Staatsstreich.
    Alexander ging wieder ins Bett. Nina schlief, ihr rotes Haar wie eine Flutwelle über das Kissen aus ägyptischer Baumwolle gebreitet, die Arme dicht an den Körper gelegt, als hielte sie eine Yogaposition. Es war erstaunlich, wie reglos sie schlief, mit welch kompromissloser Zielstrebigkeit. Diese Frau tat nichts ohne Kalkül. Aber dafür hatte er sie schließlich auch geheiratet. Er war es leid gewesen, sich mit albernen Mädchen abzugeben, die den Kopf verloren und ihre Drinks auf ihren teuren Blusen vergossen, die zu laut und

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