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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Verfall einiges an Einsamkeit und Verbitterung durchgemacht haben. Vielleicht hat er deshalb Alexander Besetow als eine Art Seelenverwandten angesehen. Oder vielleicht war es etwas anderes – die Vorstellung von Jugend, die der Vergänglichkeit trotzt, oder von einem Intellekt, der stärker ist als die Entropie. Mein Vater war ein Mann, der seinen Verstand liebte und wusste, dass er ihn eines Tages verlieren würde. Vielleicht war es das, was Alexander zu seinem Helden machte – hier war jemand, dessen neurologische Schaltkreiseselbst über sieben Zeitzonen und einen Kalten Krieg hinweg ihre Strahlkraft nicht verloren. Hier war jemand, der um den Wert seiner eigenen Intelligenz ebenso wusste wie um ihre kurze Lebensdauer.
    Eines Abends im Winter, als ich sieben Jahre alt war, hatte ich so hohes Fieber, dass die Schatten an der Wand sich in Tiere verwandelten und das Zimmer sich um mich drehte. Es schneite, und die Flocken wurden im Licht der Laternen rot, während ich an der diffusen, allumfassenden Angst eines kranken Kindes litt. Ich ging hinunter ins Wohnzimmer, wo mein Vater mit einem Glas Bourbon saß. Auf dem verrauschten Fernsehbildschirm waren zwei dunkle, wütend dreinblickende Gestalten an einem Schachbrett zu sehen.
    »Dad?«, sagte ich mit fiebrig zitternder Stimme.
    »Sieh dir das an«, sagte er. »Komm her.«
    Ich setzte mich auf seinen Schoß und schwitzte in seinen Hemdkragen. Die Männer im Fernsehen waren vor lauter Rauschen kaum zu erkennen – graue, verschwommene Schemen, die sich bei jeder Bewegung verzerrten wie geisterhafte Relikte einer fremden Welt.
    »Wo sind die?«
    »In Russland. Das ist sehr weit weg. Ein riesiges Land östlich von Europa.«
    »Es sieht auch weit weg aus«, sagte ich. »Ist es da kalt?« Der Raum, in dem die Männer saßen, hatte eine kühle Atmosphäre. Zwischen ihnen herrschte ein geladenes, intensives Schweigen, als könnte man, wenn man nur aufmerksam genug lauschte, durch das statische Rauschen ihre stummen Flüche, Beleidigungen und Grübeleien hören. Der jüngere der beiden Männer kratzte sich am Kinn und opferte einen Läufer.
    »Schau dir den hier an«, sagte mein Vater und legte einen Finger auf die Mattscheibe, obwohl das gegen eine der Regeln meiner Mutter verstieß. »Er ist erst zweiundzwanzig.« Der Mann, den er berührte, wirkte grau und hager, doch seine Augen sprühten vor gespannterIntelligenz. Er packte die Figuren mit zornigem, fast schon aufsässigem Ungestüm. Sein Gegner ging behutsam mit den Spielfiguren um, legte beinahe zärtlich seine Hand um einen Läufer und ließ sie nach dem Zug noch einen Augenblick dort verweilen. Der Jüngere kratzte sich energisch am Kopf und zog mit beiläufiger Ungeduld seine Dame. »Bald ist er der jüngste Schachweltmeister der Geschichte«, sagte mein Vater nachdenklich.
    Die beiden Männer starrten einander stumm an, und wir starrten die Männer an. Mein Vater strich mir über die Stirn, und ich wurde schläfrig, doch ich wollte wach bleiben, um zu sehen, was er mir zeigen wollte. Die Zeit schien wie eingefroren. Bis auf das Rauschen der Bildstörung war es ganz still, und wir saßen lange nur da und sahen zu, bis im Endspiel der Punkt kam, ab dem nichts mehr zu ändern war. Ich habe mich seither viel mit der Partie beschäftigt: wie Alexander seinen schwarzen Turm opferte, der beinahe gierig von Russajews weißem Springer geschlagen wurde, und dann den zweiten Turm – der reglos wie ein Tier am anderen Ende des Bretts gekauert hatte, vom Publikum und dem alten Mann unbemerkt – quer über das Feld zog. Damals begriff ich nur, dass mein Vater fasziniert war. Er lehnte sich unmerklich nach vorn. In dem monochromen, östlichen Licht ließ Alexander seine Knöchel knacken. Der König seines Gegners lag tot auf der Seite. Vielleicht war aus dem Publikum die Andeutung eines Überraschungslauts zu hören. Oder vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Aber ich erinnere mich noch an die Worte meines Vaters nach dem Spiel, auch wenn mir bis heute nicht klar ist, ob er die Wahrheit sagte.
    »Siehst du«, sagte er und stellte den Fernseher ab, mit einem Lichtblitz, der in meinen Augen tanzende Flecken hinterließ. Die roten Schneeflocken sanken langsamer und immer langsamer zur Erde. Mein Vater sprach so leise, dass ich nicht wusste, ob er mit mir oder mit sich selbst redete. »Siehst du«, sagte er, und ich begann wieder zu zittern. »Du kannst eine Menge erreichen, bevor du dreißig bist.«

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