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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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3
    Alexander
    Leningrad, 1980
    Als Alexander zum ersten Mal das Café besuchte, erkannten ihn Iwan und Nikolai nicht wieder. Er war im Laufe des Winters dünner geworden, weil seine Mutter nicht da war, um ihm Unappetitliches schmackhafter zu machen, und sah blasser aus. Die erbarmungslose Kälte hatte ihm einen hohläugigen, verlorenen Ausdruck verpasst. Selbst seine Bewegungen wirkten unbeholfen, mit steifen Gliedern, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, als wollte jeder Muskel sich einwärts verkriechen. Er war nicht mehr der Alte, und selbst der war schon nicht sehr beeindruckend gewesen. Als er daher in einer pechschwarzen, verschneiten Januarnacht das Saigon betrat, schlug ihm von Iwan und Nikolai blankes Misstrauen entgegen. Sie saßen in einer Nische, vor sich winzige Wodkagläser und zwischen sich einen gewaltigen, ziegelsteinförmigen Aschenbecher. Die dunkelgrünen Vorhänge um ihren Tisch waren von Zigarettenrauch und verschwörerischen Blicken angegraut. Iwan hatte eine Zigarette zwischen seine langen Finger geklemmt und redete; Nikolai nickte eifrig und machte sich Notizen. Alexander stand unschlüssig dabei und mochte sie nicht stören.
    »Was willst du?«, fragte Iwan schließlich. Er trug ein ausgefranstes Sex-Pistols-T-Shirt und das silberne Medaillon, das er schon bei der Hundertjahrfeier angehabt hatte. Alexander nahm die Mütze ab und ließ ein wenig Schnee auf den Cafétisch rieseln.
    »Scheiße«, sagte Nikolai. Ein Schneewölkchen trübte seinen Wodka. »Wer zum Teufel bist du überhaupt?«
    »Das wollte er uns bestimmt gerade erzählen«, sagte Iwan.
    Alexander sah sich um. Das Café war dunkel und labyrinthisch, nur hier und da erhellte gedämpftes Licht eine Nische – ein Mann und eine Frau ohne Eheringe saßen sehr dicht beisammen und redeten; Gruppen junger Männer unterhielten sich stoßweise, injähen Ausbrüchen von Lärm und Gelächter; ein einzelner Mann im Rollstuhl wiegte sich vor und zurück und zeichnete gestikulierend mit seiner Zigarettenglut Satellitenumlaufbahnen in das Dämmerlicht. Alexander schloss einen Moment lang die Augen und ließ die Stimmen zu einem Mosaik ineinanderlaufen. Sie klangen entspannt, fand er, ob sie lachten, lallten oder säuselten. Es klang wie in einem Schlafzimmer, nicht wie in der Öffentlichkeit. Später begriff er, dass dies der Klang von Stimmen war, die nicht logen.
    »Also was?«, fragte Iwan streng. »Hast du dich verlaufen?«
    »Ich bin Alexander Kimowitsch«, sagte Alexander. »Wir haben uns bei der Hundertjahrfeier kennengelernt. Sie haben dort Aufzeichnungen gemacht. Ich bin vor kurzem hergezogen.«
    »Was?«, machte Nikolai. Sein katastrophal zerklüftetes Gesicht verzog sich zu einer Maske der Besorgnis; er sah, fand Alexander, wie ein sozialrealistisches Gemälde aus – Der Inbegriff jugendlicher Angst und Sorge!
    »Sie haben mir diese Adresse gegeben«, sagte Alexander und kam sich sofort idiotisch vor. »Sie haben sie aufgeschrieben und gesagt, ich sollte vorbeikommen.«
    »Wann war das?«, fragte Nikolai. Der Schnee in seinem Glas begann zu schmelzen. Alexander erinnerte sich, wie er einmal in der Volksschule einen Zettel bekommen hatte, der ihn einlud, eines der Mädchen mittags unter der großen Kiefer zu treffen, und wie er dort gewartet und nichts begriffen hatte.
    »Jetzt weiß ich«, sagte Iwan und aschte seine Zigarette ab. »Du bist das Schachwunder, oder?«
    Alexander wandte den Blick ab. »Ich bin nur an der Akademie.«
    »Ich habe einiges über dich gelesen«, sagte Iwan. »Du hast dich gemacht.«
    »Danke«, sagte Alexander und wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei er hergekommen, um sich gratulieren zu lassen.
    »Aber bitte setz dich, setz dich doch«, sagte Iwan. »Nikolai Sergejewitsch, würdest du so gütig sein und dem jungen Mann Wodkabestellen?« Nikolai warf Alexander einen langen, prüfenden Blick zu und trollte sich, nicht ohne nach den jungen Frauen am Nebentisch zu schielen. »Also. Alexander Kimowitsch. Was hältst du von unserer Stadt?« Iwan lächelte wie ein sowjetischer Botschafter, der einen Drittweltdiktator zu becircen versucht.
    »Sie ist sehr nett«, sagte Alexander.
    Darüber lachte Iwan. In der aufglimmenden Glut seiner Zigarette verzog sich sein Gesicht zu metallisch glatten Ecken und Kanten. Er hob eine Augenbraue. »Keine Schwierigkeiten in deiner Wohnung?«
    »Nein«, sagte Alexander, auch wenn er sich zuweilen wünschte, er hätte

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