Das Leben ist groß
schmalen Schultern und gab ihm eine Praline. Er sah an uns vorbei. Seine Kiefer mahlten, und er produzierte Ploppgeräusche. Seine Finger krümmten sich wie die Krallen eines Dinosauriers, und er presste sie so fest auf den Tisch, dass sie weiß wurden.
»Guten Tag, Herr Ellison«, sagte Jonathan. Mein Vater sagte natürlich nichts.
»Alles Genetik«, sagte ich.
»Wirst du genauso?«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
Auf dem Rückweg schwiegen wir. Ich ließ Jonathan ans Steuer. Vor uns lag das Panorama der Stadt, silbrige Häuser, in denen sich das letzte Tageslicht verfing, und der Prudential Tower ragte bleich aus dem Dunst. Ich öffnete das Fenster und dachte an meinen Vater. Wie die meisten war ich mit zwölf nicht gerade eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen. Manchmal störte mich der Gedanke, dass diese Version meiner selbst die letzte war, die mein Vater erlebte, bevor er den Verstand verlor – auch wenn das natürlich sinnlos war. Als stünde er seitdem am anderen Ende eines magischen Regenbogens und trüge ein verwischtes Abbild meiner Jugend mit sich herum. In Wirklichkeit war es umgekehrt. Aber in schwachen, sentimentalen Augenblicken hatte ich den Drang, ihm zu sagen: Siehst du, immerhin habe ich einen Sinn für Humor entwickelt.Du würdest mich mögen, wenn du das nicht sowieso schon tätest.
Womit nur gesagt sein soll, dass es mir nicht egal ist, wie man sich an mich erinnert.
Im April starb mein Vater. Es geschah sehr leise, und es war merkwürdig irreal, wie alles, das man lange genug herbeisehnt. Grauenerregend war es nicht. Es war friedlich, morphiumsanft und unausweichlich. In gewisser Weise war es das Einzige, was für meinen Vater in knapp zwei Jahrzehnten nicht schieflief. Ich ließ die ganze Zeit über die Hand auf seinem Kopf liegen, und er wurde kalt, noch bevor sein Herz aufhörte zu schlagen. Außerdem wurde er gelb, weil seine Leber versagte – und es wirkte tatsächlich wie ein natürlicher Prozess, wie eine Notwendigkeit, eine Quelle säkularen Trosts, wenn man nur von den achtzehn Jahren davor absah. Meine Mutter und ich standen dabei, und die Tränen blieben uns irgendwo im Rachen stecken, weil wir nur atmeten, wenn er es tat. Er starb erst eine Weile nach dem letzten Atemzug, nach dem letzten Pulsschlag, wenn ich auch nicht genau sagen könnte, wann. Zwei Jahrzehnte lang zu sterben nimmt etwas aus dem Leben fort, aber es nimmt auch dem Sterben etwas. Der Tod wird zu einer matten Asymptote, die immer näher kommt und immer unerreichbar bleibt. Bis er irgendwann doch erreicht ist.
Ich dachte an Jonathan – wie Jonathan auf meinen Vater gezeigt hatte, auf seine flatternden Hände und tief eingesunkenen Augen. Er hatte gefragt, ob ich genauso werden würde, und ich hatte gesagt, nicht, wenn ich es verhindern könnte. Was mich an Lars erinnerte, wie er sagte: »Das kann sie nie, sie kann es nie verhindern.«
Jonathan kam zur Beerdigung, und er hielt meine Hand und senkte den Kopf mit der angemessenen Dosis ernster Einkehr. Trotzdem begann sich schon damals ein Abgrund zwischen uns aufzutun, der immer unermesslicher wurde. Wir alle sind sterblich, ja, aber vielleicht sind einige von uns sterblicher als andere. Der Friedhof warbeinahe schön mit seinem zartgrünen Hauch frischer Knospen und jungen Grases, das schüchtern den Boden zu erobern begann, mit einer kühlen Brise, in der die Schatten der Bäume halb anmutig, halb unheimlich über die Gräber wanderten. Jonathan betrachtete das alles – den Sarg, das Grab, den grünen Kunstrasen, der die bloßgelegte Erde verdeckte – mit dem Blick eines Zuschauers.
Rückschauend sage ich mir, dass diese Sache wie alles andere auch ihr Gutes hat. Wir heiraten also nicht, bekommen keine Kinder, werden nicht zusammen alt. Das alles verpassen wir. Außerdem hören wir nicht auf, miteinander zu schlafen, lassen uns nicht scheiden, werden einander nicht fremd, blicken nicht voller Trauer und Entsetzen auf jene ersten Tage zurück, um uns zu fragen, wie alles so den Bach runtergehen konnte. Diese ersten Tage, die Zeit in Boston, waren unsere einzigen. Ich meine, dafür kann ich durchaus dankbar sein.
Doch damals war ich es noch nicht. Ich sah in den Himmel, ich sah zu Boden. Alles war so zerbrechlich und roh und intensiv. Ich sah zu Jonathan hinüber. Wir gleichen einander nicht, dachte ich. Und du würdest auch nicht wollen, dass es so wäre.
Ein paar Wochen nach dem Tod meines Vaters räumte ich das Haus aus, und dabei fand
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