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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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gewesen. Ich las den Brief noch einmal und verwarf diese Möglichkeit wieder.
    Mein Vater wusste, dass es zu Ende ging, und vielleicht hatte dieser Umstand ihm eine tiefere Einsicht beschert – das unerklärliche Wissen, dass genau dies und nichts anderes der Weg war, den er beschreiten musste, das angemessene Ende seiner Geschichte. Mein eigenes Ende rückt ebenfalls näher, und ich habe noch keine solche Erleuchtung gehabt, aber darum geht es nicht. Wenn mein Vater seinen Weg gefunden hatte, freue ich mich für ihn.
    Ich dachte über seine Fragen nach. Offenbar hatte er viel über das Schicksal nachgedacht, als er diesen Brief schrieb, und wollte von Alexander Besetow eine qualifizierte Auskunft zum Thema. Mein Vater war nicht religiös – wenn doch, wusste er es jedenfalls geschickt zu verbergen –, und ich glaube nicht, dass er sich unter dem Schicksal eine vorherbestimmte Ereignisfolge vorstellte, die eine grausame, selbstgefällige Gottheit ausgeheckt hatte. Ich glaube, wenn er über das Schicksal schrieb – das er ebenso gut Bestimmung oder sogar Zukunft hätte nennen können –, dann meinte er damit die bestehende Realität im Gegensatz zu all den anderen Realitäten, die hätten eintreten können. Wenn man eine fünfzigprozentige Chance hat, einer genetisch programmierten Katastrophe zu entgehen, bekommen solche Überlegungen eine besondere Bedeutung. Es ist ein ganz eigenes Gefühl der Niederlage, bei einer Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50 zu verlieren.
    Ich fragte mich, ob mein Vater eine Antwort bekommen hatte. Dass der Brief kopiert worden war, sprach dafür, dass er das Original abgeschickt hatte. Aber vielleicht auch nicht – vielleicht hatte ihn Befangenheit davon abgehalten, hatte er es sich anders überlegt, war abgelenkt worden, oder die Krankheit hatte ihn eingeholt.
    Ich blätterte die Papiere noch zwei Mal durch, aber eine Antwort von Besetow war nicht dabei. Stattdessen fand ich eine kurze Notiz von jemand anderem:
    Sehr geehrter Herr Prof. Ellison,
    vielen Dank für Ihren Brief. Bedauerlicherweise ist Herr Besetowim Augenblick nicht in der Lage, Ihre Fragen zu beantworten. Ich wünsche Ihnen jedoch alles Gute für Ihre Suche nach den Antworten.
    Mit freundlichen Grüßen
    Elisabeta Nasarowna
    Ich las die Notiz noch einmal. Sie musste wohl eine Sekretärin sein, aber ihr etwas wehmütiger Tonfall klang, als hätte sie den Brief meines Vaters mit einem Interesse gelesen, das über die bloße berufliche Pflicht hinausging. Lange saß ich so da, betrachtete die Kiste, lauschte auf die im ganzen Haus widerhallende Stille und dachte nach. Offensichtlich hatte mein Vater keine Antwort von Alexander Besetow erhalten. Das kam mir ziemlich ungerecht vor, wo er schon sonst so wenig erhalten hatte.
    Vielleicht dachte ich in dem Moment zum ersten Mal daran zu fahren. Ich suchte ohnehin nach einem möglichst eleganten Weg, aus Jonathans Leben zu verschwinden, und – das gebe ich offen zu – nach einer Chance auf ein letztes Abenteuer. Ich wollte meiner Mutter nicht noch einmal zumuten, was sie schon beim ersten Mal nur knapp überlebt hatte. Die Vorstellung, nach den Antworten auf die Fragen meines Vaters zu suchen, hatte etwas wohltuend Symmetrisches. Wie ein Zug auf dem Schachfeld wäre dieser Schritt eine Fortschreibung von Tendenzen, die es schon gab. Mir war durchaus bewusst, dass er alles andere als unausweichlich war und dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn ich die Antworten – oder auch nur Besetow selbst – jemals fand.
    Doch wie der von Nabokov so glühend gehasste Dostojewski schon sagte, haben Wunder einen wahren Realisten noch nie beirren können.

KAPITEL 5
    Alexander
    Leningrad, 1980
    Den Rest des Winters über ging Alexander jede Woche wieder ins Saigon, und diese Ausflüge waren wie ein graues Dämmerlicht in der tristen Eintönigkeit seiner Tage. Es war keine herzerwärmende, rotglühende Morgendämmerung voller Hoffnung und Sonnenschein – Nikolai war abweisend und Iwan wichtigtuerisch, und Alexander begriff bald, dass sie ihn beide nicht besonders mochten –, doch immer noch besser als ewige Nacht. Samstags früh, wenn weniger Polizisten unterwegs waren, nahmen Iwan und Nikolai ihn mit zu dem Markt für verbotene Bücher, der jede Woche seinen Standort wechselte. Abends sahen sie sich manchmal im Kulturverein der Kirow-Werke inoffizielle Kunstausstellungen an, oder sie lauschten im Saigon einem Auftritt von Sankt-Petersburg und debattierten über die angeblichen

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