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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Schachpartie beobachtet hatte. Besetow war für ihn mehr als ein vielversprechender junger Sportler. Er war der personifizierte Sieg der Ordnung über die Anarchie. Er verkörperte die Fähigkeit, sich mutig dem beinahe sicheren Untergang entgegenzustemmen. Und das Wichtigste war vielleicht, dass seine Geschichte den Glauben an unwahrscheinliche Ereignisse stärkte, für die sich mein Vater vermutlich schon zu interessieren begann, als er mich auf seinen Schoß setzte und mir zeigte, was man innerhalb kurzer Zeit erreichen kann.
    Ganz unten in der Kiste lag ein Brief. Einen selbstzufriedenenAugenblick lang glaubte ich, ich würde ihn nicht öffnen. Dann tat ich es doch.
    Es war die Fotokopie eines undatierten und auf Russisch verfassten Schreibens. Damals, bevor ich nach St. Petersburg kam, war mein Russisch weniger gut als das meines Vaters, obwohl ich es im Zuge meiner Dissertation an der Uni gelernt hatte und er seine Kenntnisse dem Selbststudium verdankte. Ich brauchte drei Durchgänge, um den Inhalt des Briefes zu erfassen, und selbst jetzt, da ich Russisch ziemlich gut beherrsche, bin ich nicht sicher, ob ich nicht das eine oder andere falsch verstehe. Er lautete ungefähr wie folgt:
    Sehr geehrter Herr Besetow,
    vielleicht verwundert es Sie, dass Sie Fanpost von einem Amerikaner bekommen. Andererseits, wer weiß, könnte es auch sein, dass Ihnen das mehrmals täglich passiert. Vieles an Ihnen ist bewundernswert – Ihre originelle, radikale Spielstrategie, Ihr Durchhaltevermögen in scheinbar aussichtslosen Situationen, Ihre bemerkenswerte Intelligenz. Ganz besonders fesselnd sind diese Eigenschaften für jemanden, der sich seit Jahren sehr eingehend mit der Bedeutung von ersten Anfängen befasst; man darf davon ausgehen, dass Sie es noch weit bringen werden. Vermutlich fühle ich mich Ihnen auch deshalb in gewisser Weise verbunden, weil ich selbst derzeit ein schwieriges Match zu bestreiten habe, das, wie ich befürchte, schon bald in einer ausgesprochen bitteren Niederlage enden wird. Und daher frage ich mich, ob es Ihnen möglich wäre, mir eine Frage zu beantworten.
    Sie wären gar nicht erst in Ihre jetzige Position gelangt, wenn Sie nicht in erster Linie ein Sieger wären – der Sieger jener Begegnungen, auf die es am meisten ankam. Und doch hat es auch Partien, Begegnungen und Turniere gegeben, die Sie verloren haben. Bei manchen dieser Spiele wiederum haben Sie sicher von vornherein gewusst, wie es ausgehen würde – Spiele, in denen Ihr Intellekt sich im Gegensatz zu sonst als beschränkt, schwankend und sterblich erwies. Wenn Sie so eine Partie, eine Begegnung, ein Turnierbestreiten, wie gehen Sie dann vor? Welche Geschichte erzählen Sie sich selbst, wenn Sie sich dieser absoluten Gewissheit gegenübersehen, wenn Sie das Gefühl haben, sich an den Grenzen Ihres Selbst wund zu reiben?
    Bitte verzeihen Sie mir, dass ich so eigenartige Fragen stelle. Schreiben Sie es der Sentimentalität und Verwirrung zu – oder, etwas wohlwollender, der Klarsicht –, die es mit sich bringt, zu früh zu viel zu verlieren.
    In dankbarer Erwartung
    Prof. Frank Ellison
    Ich las den Brief noch einmal und ließ mich auf die Heizung sinken. Es könnte sein, dass ich ein klein wenig weinte. Und dann las ich ihn wieder. Ich staunte, wie formell er klang. Die Formulierung »erste Anfänge« war meine Annäherung an eine schwer übersetzbare Phrase. Wörtlich stand dort in etwa »beginnende Eröffnungszüge« – ganz offensichtlich eine Anspielung auf die ersten Anzeichen der Krankheit, aber in einer eher untypischen Formulierung. Selbst nach der Übersetzung war der Idiolekt des Briefes ein anderer, als ich ihn von meinem Vater in Erinnerung hatte, wobei ich mir vor Augen halten musste, dass er mit mir als Kind vermutlich ein vereinfachtes Vokabular benutzte. Mein Vater hatte mit mir nie wie mit einer Erwachsenen gesprochen, weil er mich als Erwachsene nicht mehr kannte. Also war es unsinnig, darüber zu spekulieren, ob irgendein Tonfall für meinen Vater typisch war oder nicht. Ich konnte es nicht wissen.
    Ebenso wenig wusste ich, was dieser Brief meinem Vater bedeutet hatte, wo er in der nebligen Landschaft seines Lebensentwurfs einzuordnen war. Vielleicht war er ungewöhnlich oder sogar einzigartig, oder vielleicht hatte es in seinem Leben immer wieder solche Briefe gegeben – an Schachweltmeister, an Squashspieler, Wirtschaftsexperten oder Zirkusartisten. Vielleicht war diese Wahlverwandschaft nur eine unter vielen

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