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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Gegner.
    »Und?«, fragte Andronow schließlich. »Wo soll es danach hingehen?«
    »Hingehen? Was meinen Sie damit?« Alexander fühlte einen trockenen Klumpen im Hals, der sich einen Weg bauchwärts bahnte. Wenn er so tat, als verstünde er nicht, vielleicht musste er dann nicht gehen. Die Zeichen standen auf Remis.
    Als Andronow seine fetten Ellbogen auf die Bücher stützte, bildeten sich Grübchen, die Alexander betrübt zublinzelten. »Wenndu mich geschlagen hast, was tust du dann? Denkst du etwa, du könntest hierbleiben? Denkst du, wir lassen uns in so eine Farce einspannen?«
    »Oh«, sagte Alexander. »Meinen Sie, ich werde gewinnen?« Doch er begann sich allmählich Sorgen zu machen. Andronow hatte seinen Läufer auf h2 vorgerückt, ohne zu beachten, dass Alexander ihn dort zwischen seinen Bauern festsetzen konnte.
    »Könnte ich nicht, ich meine …«, sagte Alexander, »… könnte ich vielleicht hier aushelfen?« Er verrückte seinen Bauern nach g3 und schloss damit die Falle, in die der Läufer sich begeben hatte.
    »Aushelfen? Bei was denn? Beim Putzen? Bei der Schmutzwäsche? Willst du unsere neue Waschfrau sein?« Er fuhr als letztes kleines Geschütz seinen h-Bauern auf.
    »Könnte ich nicht vielleicht unterrichten?«
    Andronow ließ seine Ellbogen mit einem satten Knall auf die Tischplatte fallen. »Unterrichten? Du willst unterrichten? Siehst du, Towarischtsch, das ist genau das, was ich meine. Diese Arroganz. Die können wir hier nicht brauchen. Niemand hat sie je gebraucht, und wir brauchen sie auch jetzt nicht.«
    Alexander zog seinen König diagonal rückwärts, bevor er weitersprach. »Ich wollte nicht arrogant sein«, sagte er. »Ich weiß bloß nicht, wo ich sonst tagsüber hingehen soll.«
    »Dann finde es raus, wenn du so schlau bist.« Andronow rückte seinen Bauern noch ein Feld vor, in der Hoffnung, er könnte den Läufer befreien. Alexander sah die feuchten Schlangenspuren, die der Schweiß auf Andronows Hals hinterließ.
    Plötzlich wurde Alexander bewusst, wie wütend er war. Normalerweise bemerkte er es erst, wenn es zu spät war, doch diesmal konnte er genau dabei zusehen. Andronow verschwamm ihm vor den Augen, und er hörte tief in seinem Hinterkopf das Geräusch eines Tiers, das krachend durchs Unterholz brach. Er zog seinen König seitwärts, bedrohlich nah an Andronows Läufer.
    »Ich dachte, es sei gut, Erfolg zu haben«, sagte er in möglichst neutralem Ton. Es war eine reine Feststellung. »Ich dachte, es seigut für den Ruf der Schule. Ich dachte, Sie wären dann … zufrieden.« Fast hätte er »stolz« gesagt.
    »Zufrieden? Nein, Towarischtsch.« Andronow raufte sich die Haare, nahm seine Brille ab und sah Alexander – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – direkt ins Gesicht. Seine Augen waren wie kleine Perlen in den zahllosen nackten Falten einer Auster. »Ich bin mit den Erfolgen und Misserfolgen meiner Schüler weder zufrieden noch unzufrieden. Ich bin nur dazu da, eine effiziente Schachakademie zu führen, und deine Anwesenheit ist dabei nicht förderlich.« Andronows Läufer zog sich vergebens um ein Feld zurück, und Alexander begriff, wie sehr Andronow sich gewünscht hatte, nicht zu verlieren.
    »Verstehe«, sagte Alexander. Er schlug den Läufer mit seinem König.
    »Gut«, sagte Andronow. »Dann wäre ja alles geklärt. Bis heute Nachmittag bist du hier raus.« Er nickte, dass sein Doppelkinn wackelte. Das Spiel war beendet.
    Alexander trat in den Flur hinaus und sah zu der hohen Bogendecke auf. Durch die Fenster sickerte schmutziggraues Licht herein, als wollte es jeden Moment mitten im Gang zu regnen anfangen. Er hatte ja wirklich nicht viel gelernt. Doch es hatte ihm gefallen, das zu tun, wofür er nach Leningrad gekommen war, und er hatte die betäubende geistige Leere gemocht, die es ihm bescherte, die anderen zu besiegen. Er war nicht voller Verlangen aufgewacht, in die Akademie zu gehen, aber immerhin mit dem Gefühl, zu wissen, wo er hinmusste. Er konnte sich ein Leben in Leningrad ohne die Akademie nicht vorstellen, wusste nicht, wie er seine Tage strukturieren sollte, wofür er morgens aufstehen sollte, wer noch merken würde, ob er lebte oder starb, oder wozu er überhaupt hierbleiben sollte. Sicher würde es weitere Turniere, weitere Erfolge geben, aber ohne die Akademie gab es nichts, was ihn mit Leningrad verband. Er konnte sich treiben lassen, wohin er wollte – ins Weltall, in den erbarmungslosen äußersten Norden oder nach Ocha, wo er

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