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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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monarchistischen Ansichten der Musiker. Sonntags verschanzte Alexander sich in seinem Zimmer mit schlecht übersetzten Werken von Kurt Vonnegut und Iris Murdoch, die ihm viel besser gefielen als die munteren Schnurren von unerschrockenen Jungen in widrigen Umständen, die er aus der Schulzeit in Ocha kannte. Die Wochentage verbrachte er in der Akademie oder in den Turnhallen von Universitäten, wo er jedes Spiel gewann und nach jedem Zug die Schachuhr mit dem Daumen stoppte. Das Vergehen der Zeit schien Alexanders Willen zu gehorchen, als setzte er alle seine Strategien gegen die Tage selbst ein, die ihm nachgeben und sich schließlich zurückziehen mussten.
    Anfangs nahm niemand Alexander für voll – weil er so jung war, so provinziell und so grüblerisch und, stellte er fest, weil die anderen einfach glauben wollten, dass er dumm war, und diesen Glauben trotz aller Gegenbeweise ungern revidierten. Irgendwann jedoch konnten sie nicht umhin, ihn zu bemerken, erst innerhalb derAkademie – wo seine endlose Siegesserie und seine verblüffenden Strategien ihm Aufmerksamkeit, Misstrauen und schließlich Hass eintrugen – und dann auch außerhalb, als die Literaturnaja Gaseta ihm ein kleines Porträt widmete. Er wusste, dass sich die Kunde früher oder später weiterverbreiten würde. Das Porträt war nur der Anfang. Wenn es ernsthaft aufwärtsging, würde er lernen müssen, selbstironisch und bescheiden zu sein. Am besten verhielt man sich zurückhaltend, wenn sich das ganze Leben änderte. Und er liebte es, sich diese Änderungen auszumalen. Die Verwalterin würde ihm morgens Tee und Saiki bringen. Sie würde vor den neuen Mietern mit ihm prahlen wie mit der günstigen Lage oder den Toiletten auf jeder Etage. Eines Nachts würde er vor seiner Zimmertür wie das Flüstern fallender Blütenblätter Elisabetas Stimme hören, die seinen Namen nannte. »Hier wohnt er«, würde sie sagen. »Alexander, das Schachgenie.« Dann sank er in den Schlaf zurück, und im Schlaf verwandelte sich das azurblaue Meer in ein endloses schwarzweißes Spielfeld und trug ihn bis ans Ende der Welt.
    Auch bis zu einem Kräftemessen mit Andronow war es nur eine Frage der Zeit. Die anderen Jungen an der Akademie wussten das ebenso gut wie er. Wenn er neue, absonderliche Strategien einsetzte, fragten sie: »Willst du das auch an Andronow ausprobieren?« Wenn er einen Fehler machte, was selten genug vorkam, kreischten sie, das werde ihm Andronow niemals durchgehen lassen. Doch als ihn Andronow eines Tages am Ohr packte und von dem Spielbrett wegzerrte, war Alexander dennoch überrascht. »Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte er. Er spielte gerade gegen Oleg, einen intelligenten, hellhäutigen Jüngling, der offenbar den Ehrgeiz besaß, so wenig wie nur irgend möglich zu sprechen.
    »Komm mit«, sagte Andronow.
    Alexander sah Oleg schulterzuckend an, und Oleg räumte schweigend die Figuren ein. Andronow führte Alexander den Flur hinunter in sein Büro, wo er sich in einen Sessel fallen ließ. »Setz dich«, sagte er. Alexander gehorchte.
    Zwischen ihnen stand Andronows vorsintflutlicher Schreibtisch,auf dem sich dicke Schachlehrwerke und uralte Spielsets türmten. Unter anderen Umständen hätte Alexander sich in dem Büro gern ein wenig umgesehen – besonders die Unterlagen, in denen sich bestimmt viele bewundernde Äußerungen über ihn fanden, hätte er gern studiert. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, und Alexander, der sich vergeblich bemühte, Andronows Blick einzufangen, begann allmählich zu begreifen, dass dieser Zeitpunkt nie kommen würde.
    Andronow ließ eine Ausgabe der Literaturnaja Gaseta auf den Schreibtisch klatschen. »So, man unterhält sich also mit der Presse«, sagte er.
    »Na ja, eigentlich haben die sich mit mir unterhalten.«
    »Wie ich sehe, hast du auch einiges zu der Spielstärke deiner Mitschüler an der Akademie zu erzählen.«
    »Die haben danach gefragt!«
    Andronow schob ein verschlissenes Spielbrett auf Alexander zu. »Spiel«, sagte er.
    »Bin ich weiß?«
    »Spiel.«
    Alexander eröffnete mit einer bedächtigen Nimzo-Indischen Verteidigung. Es folgte ein ritualisierter, blutleerer Austausch von Figuren. Andronow schien zu zögern; seine Handflächen und seine Stirn glänzten, und Alexander fiel auf, dass er sich auf keine bestimmte Bauernstruktur festlegte. Von Zeit zu Zeit murmelte er angespannt vor sich hin, als nähme er dem Schachbrett sein unverfrorenes Verhalten übel, nicht seinem

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