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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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für seine Mutter die Hühner schlachtenkönnte. Nichts hielt ihn hier, und nichts zog ihn anderswohin. Da es keinen guten Grund gab, nicht dort zu sein, überquerte Alexander die Straße und setzte sich in die nächste Bar.
    Eine selbstmitleidige, wodkagetränkte Stunde später bemerkte Alexander, dass sein Sitznachbar ihn anstarrte. Er tat, als wollte er seine Halswirbel knacken lassen, um sich den anderen anzusehen. Der Mann fing seinen Blick auf. Er wartete geduldig, und Alexander fragte sich, wie lange er das schon tat. »Zigarette?«, fragte der Mann.
    Er wirkte gepflegt, doch seine Fingernägel waren nikotingelb verfärbt, und sein Atem gemahnte Alexander an die Vergänglichkeit allen Lebens. Der Mann war ein Apparatschik.
    »Ich rauche nicht«, sagte Alexander und rückte ein wenig von ihm ab.
    Eine Zeitlang musterte der Mann ihn amüsiert. Seine Nase lief, was irgendwie beunruhigend wirkte. »Ah, Sie rauchen nicht«, sagte er. »Natürlich nicht. Das habe ich ja gelesen.«
    Einen flüchtigen Augenblick lang sonnte sich Alexander in der Vorstellung, der Mann beziehe sich auf sein Porträt in der Zeitung. Natürlich nicht.
    »In meiner Akte«, sagte Alexander. Er hatte geahnt, dass es eine Akte über ihn gab – es schmeichelte ihm sogar ein bisschen, denn es hatte mit seiner Spielstärke zu tun. Doch es in aller Öffentlichkeit bestätigt zu bekommen war erschreckend. Man wusste von diesen Dingen und schwieg darüber wie über die Spezifika menschlichen Fortpflanzungsverhaltens.
    »Ich dagegen trinke nicht«, gab der Mann gutgelaunt bekannt. »Wir sind also beide ungewöhnlich.«
    »Sie trinken nicht?«
    »Zumindest nicht bei der Arbeit. Das ist ungewöhnlich genug.« Der Mann lehnte sich zurück, und die spärliche Beleuchtung verlieh ihm einen Heiligenschein. »Sie trinken, zum Beispiel.«
    »Ich habe jetzt Gründe dafür.«
    »Alkoholismus ist ein Auswuchs des Kapitalismus.« Der Mann drückte seine Zigarette aus. »Aber Sie sind noch jung.«
    »Ich bin neunzehn.«
    »Grauenhaft jung.«
    »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
    Der Mann lachte laut los, als hätte jemand ihn vorgewarnt, dass Alexander versuchen würde, lustig zu sein, und dass es besser wäre, ihn bei Laune zu halten. Er strich sich theatralisch mit dem Handrücken über die Augen, wie um seine Lachtränen fortzuwischen. »Verzeihen Sie«, sagte er und streckte Alexander die Hand und seinen Ausweis hin. »Ich habe mich nicht vorgestellt. Peter Pawlowitsch Nikitin. Ich bin sozusagen das Bindeglied zwischen der Partei und dem Spiel.«
    Der Ausweis bestätigte seine Mitgliedschaft in der KPdSU, die der schwere Anzugstoff und die manikürten Fingernägel bereits verraten hatten. Das Foto zeigte einen jüngeren und schlankeren Peter Pawlowitsch mit viel zu breiten Epauletten und einem überraschten, stolzen Gesichtsausdruck. Seine neue Position schien ihn damals begeistert, eingeschüchtert und verängstigt zu haben.
    Alexander reichte dem Mann die Hand und ärgerte sich zugleich über seine krankhafte Höflichkeit. Der Mann hatte seidig weiche Hände; die Nikotinflecken wirkten deplatziert wie die Narben längst vergessener Verwundungen. Alexander ging auf, dass hier genau das Gespräch stattfand, vor dem Iwan ihn gewarnt hatte.
    »Wir haben gehört, dass Ihre Laufbahn an der Akademie beendet ist«, sagte Peter Pawlowitsch. »Man sagt, Sie hätten Andronow geschlagen.«
    »Das ging ja schnell. Hat er selbst bei Ihnen angerufen?«
    »Na, na. Wir beide werden uns blendend verstehen, aber nur, wenn Sie keine direkten Fragen stellen.«
    »Oder war es Oleg? Ich wusste gar nicht, dass er sprechen kann.«
    »Beginnen wir noch einmal von vorn«, sagte Peter Pawlowitsch. Er bestellte noch eine Runde Wodka, dann zog er ein Feuerzeug aus der Tasche und starrte einen Moment zu lange in die kleineFlamme, bevor er seine Zigarette ansteckte. Seine Lippen produzierten zwischen den Zügen ein schmatzendes Geräusch. »Also, von vorn. Ich habe mich unklar ausgedrückt. Ein Talent wie Ihres hebt das Ansehen der Sowjetunion. Sie zeigen dem Rest der Welt, wer die besseren Schachspieler sind.«
    Alexander griff nach dem ersten seiner Schnapsgläser. Er trank normalerweise keinen Stoli, doch die staatlich hergestellten Wodkas schmeckten letztlich alle gleich. Am liebsten hätte er dem Mann gesagt, er solle sich verpissen, obwohl es schade gewesen wäre, seine gerade beginnende Karriere schon wieder zu beenden. Doch Alexander hatte noch nie jemanden weggeschickt.

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